- von Alexander Hübner und Holger Hansen

München/Berlin (Reuters) - Der Bundesfinanzhof (BFH) hält den Solidaritätszuschlag auch mehr als 30 Jahre nach der Wiedervereinigung überraschend noch für verfassungsgemäß.

Der seit 1995 erhobene Zuschlag auf die Einkommen- und die Körperschaftsteuer sei "noch mit dem Grundgesetz vereinbar", urteilte der 9. Senat des höchsten deutschen Steuergerichts am Montag in München. Bloße Zweifel daran reichten nicht aus, um den "Soli" dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) zur Überprüfung vorzulegen, sagte der Vorsitzende Richter und Präsident des BFH, Hans-Josef Thesling. Der Bund habe immer noch einen Mehraufwand für die Folgen der deutschen Einheit. (Az. IX R 15/20)

Auch dass die Sonderabgabe seit 2021 nur noch auf die zehn Prozent höchsten Einkommen fällig wird, sei von der Verfassung gedeckt, sagte Thesling. Die Kläger hatten kritisiert, es handle sich um eine verkappte Reichensteuer. Seit zwei Jahren müssen nur noch Spitzenverdiener und Unternehmen den Zuschlag von bis zu 5,5 Prozent der Einkommen- und Körperschaftsteuer zahlen. Es geht um Einnahmen von etwa elf Milliarden Euro im Jahr für den Bund.

Das Urteil heizte die Steuerdebatte in der "Ampel-Koalition" erneut an. Die FDP, die das Bundesfinanzministerium führt, wirbt seit langem für ein Ende des Soli. "Aus meiner Sicht würde die Abschaffung unsere globale Wettbewerbsfähigkeit stärken", twitterte Parteichef und Finanzminister Christian Lindner. Dazu gebe es aber in der Koalition unterschiedliche Positionen. Die Sonderabgabe habe nach dem Auslaufen des Solidarpakts 2019 ihre Daseinsberechtigung verloren, der ursprüngliche Zweck sei nur noch ein Feigenblatt, sagte der finanzpolitische Sprecher der FDP-Fraktion im Bundestag, Markus Herbrand. Der Staat nehme genügend Steuern ein, um den Soli abzuschaffen. Das wäre ein "guter Impuls für Investitionen und neue Jobs", twitterte die parlamentarische Staatssekretärin im Finanzministerium, Katja Hessel. Lindners Ministerium war dem beklagten Finanzamt Aschaffenburg in dem Verfahren nicht beigesprungen.

Bundeskanzler Olaf Scholz dürfte sich durch das Urteil bestätigt sehen. Der SPD-Politiker war als Bundesfinanzminister maßgeblich verantwortlich für die Teilabschaffung des Soli ab 2021. Diese ging auf eine Entscheidung der großen Koalition aus Union und SPD Ende 2019 zurück. Scholz lehnte die von der Union bereits damals geforderte komplette Abschaffung des Zuschlages ab. Es gebe mit Blick auf die noch zu schulternden Aufgaben bei der deutschen Einheit "gute Gründe" für die Abgabe, sagte Scholz damals.

Vertreter von SPD und Grünen begrüßten die Entscheidung am Montag. "Es gibt großen staatlichen Finanzbedarf aus der Wiedervereinigung und auch aus aktuellen Krisen", sagte der finanzpolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Michael Schrodi, der Nachrichtenagentur Reuters. Der stellvertretende Grünen-Fraktionschef Andreas Audretsch erklärte: "Steuersenkungen für die Reichsten passen nicht in die Zeit. Das gilt beim Soli, aber auch generell." Er forderte, den Spitzensteuersatz zur Krisen-Finanzierung anzuheben.

STEUERZAHLERBUND: SOLI AB 2025 VERFASSUNGSWIDRIG

Viele Experten hatten damit gerechnet, dass der BFH Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Soli äußern würde. Der Präsident des Bundes der Steuerzahler, Reiner Holznagel, erklärte, das Gericht habe immerhin deutlich gemacht, dass der Zuschlag auf eine Generation beschränkt sei und nicht auf Dauer bestehen bleiben könne. Damit sei der Soli seiner Ansicht nach ab 2025 verfassungswidrig. "Aus dem Gesetz zur Rückführung des Solidaritätszuschlags wird daher deutlich, dass der Gesetzgeber diesen nicht unbegrenzt erheben will, sondern nur für eine Übergangszeit", erklärten die Richter. Dieser Zeitraum sei aber noch nicht abgelaufen. Mit dem Auslaufen des Solidarpakts habe er nichts zu tun. Ob die Einnahmen auch für die Finanzierung der Corona-Pandemie und des Ukraine-Krieges verwendet würden, sei unerheblich.

Der Vertreter der Kläger, der Bochumer Steuerwissenschaftler Roman Seer, ließ offen, ob das ältere Ehepaar aus Aschaffenburg Verfassungsbeschwerde gegen das BFH-Urteil einlegen werde. Dafür hat es vier Wochen Zeit. Es hatte sowohl die Neuregelung ab 2021 als auch die Berechtigung für das Jahr 2020 angezweifelt, weil der Soli nach dem Auslaufen des Solidarpakts II Ende 2019 hinfällig sei. "Natürlich sind wir enttäuscht", sagte Seer zu Reuters TV. Er kritisierte, dass der Bund bei der Reform des Soli den Mehraufwand infolge der deutschen Einheit nur vage beziffert habe. Seit der Beschränkung auf die höchste Einkommensgruppe sei der Soli de facto eine Reichensteuer. Der Bund habe damit aber die für eine Steuer nötige Zustimmung des Bundesrates umgangen.

Beim Verfassungsgericht liegt bereits seit 2020 eine Verfassungsbeschwerde mehrerer FDP-Abgeordneter gegen die Soli-Neuregelung vor, zu denen auch der heutige Finanzstaatssekretär Florian Toncar gehört. Der stellvertretende Fraktionschef von CDU/CSU, Mathias Middelberg, sagte, angesichts der finanziellen Risiken für den Bundeshaushalt wäre eine rasche Entscheidung in Karlsruhe wichtig. Bayerns Finanzminister Albert Füracker (CSU) forderte Finanzminister Lindner auf, zeitnah ein Gesetz zur Abschaffung des Soli vorzulegen "und im Bundestag ehrlich dafür zu streiten". Bürger und Unternehmen brauchten Entlastung und Klarheit.

(Bericht von Alexander Hübner und Holger Hansen; Weiterer Reporter: Christian Krämer; redigiert von Hans Seidenstücker; Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com (für Politik und Konjunktur) oder frankfurt.newsroom@thomsonreuters.com (für Unternehmen und Märkte).)