Von Thomas Leppert

FRANKFURT (Dow Jones)--Viele Investoren bewegen sich momentan auf Neuland. Denn eine Inflation auf dem aktuellem Niveau haben sie noch nicht erlebt. Bundesbank-Chef Joachim Nagel hält eine Inflation von 10 Prozent in Deutschland im Herbst für möglich. Zweistellige Inflationsraten gab es in Deutschland zuletzt vor über 70 Jahren. Die Ökonomen von Vanguard erwarten im Jahresdurchschnitt eine Inflationsrate in Höhe von 8 bis 8,5 Prozent und damit deutlich mehr als einst in der Ölkrise 1973 mit 7,1 Prozent. Damals gab es bei zehnjährigen Bundesanleihen allerdings noch 9 Prozent Zinsen, damit war der Anleger auf der sicheren Seite. Aktuell sind es in diesem Laufzeitberech 1,3 Prozent Rendite, damit verliert das angelegte Geld massiv an Wert.

Auch die Devise, dass Geld in Zeiten hoher Inflation in Sachwerten gut angelegt sei, ist trügerisch. Sachwerte wie Luxusgüter werden als Inflationsschutz aktuell gekauft, anders sind die Warteschlangen vor Geschäften wie Louis Vuitton nicht zu erklären. Aktien als Sachwerte haben dieses Jahr indes bisher noch nicht geliefert. Auf lange Sicht wird der DAX sicher wieder höher notieren als gegenwärtig. Doch es bleibt die Frage, wann ein guter Zeitpunkt zum Einstieg ist.


   Daten sollten Orientierung liefern 

In dieser Situation versuchen Anleger Daten zu lesen, um eine Anlageentscheidung zu treffen. Doch diese Informationen sind aktuell trügerisch und liefern nicht die gewohnte Orientierung. Einen schwierigen Job haben gegenwärtig auch die Volkswirte - und sie liegen mit ihren Prognosen häufiger daneben. Treffend hat es jüngst UBS-Chefvolkswirt Paul Donavan zusammengefasst. Die Entwicklung einer Volkswirtschaft sei komplex und die Daten würden ständig überarbeitet. Eine Wirtschaftsprognose, die gegenwärtig richtig sei, könne schon morgen völlig falsch sein.

Aber auch die Notenbanker haben in jüngster Zeit nicht immer richtig gelegen. In guter Erinnerung sind die Aussagen von EZB-Chefin Christine Lagarde, die noch im November vergangenen Jahres die Inflation als vorübergehend einstufte. Damals lag die jährliche Inflation noch knapp über 4 Prozent und hat sich bis jetzt mehr als verdoppelt.

Nun räumte die EZB-Chefin ein, dass die Modelle der Notenbank in den vergangen beiden Jahren nicht immer verlässliche Projektionen geliefert hätten. Hier hat die Europäische Zentralbank viel Vertrauen bei den Anlegern an den Finanzmärkten verspielt, die sich nun erst einmal zurückgezogen haben. Die EZB befindet sich für viele Investoren "behind the curve" und läuft mit ihrer Zinspolitik dem Geschehen an den Anleihenmärkten hinterher. Solange diese Situation anhält, dürften Anleihen weiter fallen und die Renditen steigen. Erst wenn die EZB das Vertrauen zurückgewonnen hat oder ein zweites "whatever it takes" von sich gibt, dürften die Bond-Investoren zurückkehren.


   Bullen und Bären stehen sich gegenüber 

Auch die Daten, die Aktien-Investoren zur Verfügung stehen, ändern sich momentan extrem rasch. Die Berichtssaison zum zweiten Quartal ist fast zu Ende und wird allgemein als "besser als erwartet" eingestuft. Doch die Zahl der Überraschungen vor allem bei den Gewinnen war wie bereits im ersten Quartal extrem hoch, sei es mit einer Anpassung der Prognose nach oben oder nach unten. Die Unternehmen können aktuell die Geschäftsentwicklung angesichts steigender Inputpreise, Gehälter und anderer Variablen kaum prognostizieren. Verbessert hat sich jüngst zumindest die Versorgungslage. Eine noch offene Frage lautet: werden die Produkte in Zukunft gekauft? Auch wenn die Auftragsbücher noch gut gefüllt sind, könnten sich Kunden mit Investitionen zunehmend zurückhalten. Zudem ist zu befürchten, dass viele Konsumenten erst einmal leere Taschen haben, wenn sie ihre Heiz- und Stromkosten bezahlt haben.

Nachdem der DAX seit Anfang des Jahres rund 16 Prozent an Wert verloren hat, stehen sich Bullen und Bären an der Börse gegenüber. Zu den Bullen zählen zum Beispiel die Strategen der DZ Bank, sie erwarten den DAX am Ende des Jahres bei 14.500 Punkten, immerhin ein Plus von 9 Prozent. Zwar rechnen sie damit, dass der Aktienmarkt zumindest kurzfristig noch anfällig für Kursschwankungen bleibt. Da jedoch Gewinnkürzungen nun schon in den Kursen enthalten seien, biete sich eine Chance für positive Überraschungen und damit Kurspotenzial. Ende Juni 2022, damals stand der DAX auf dem aktuellen Niveau von 13.300 Punkten, erwartete die DZ Bank eine Talsohle und ein Restrisiko von 800 Punkten und nannte mit der 12.500er-Marke einen guten Punkt zum Einstieg.

Ulrich Stephan, Chef-Analagestratege für die Privat- und Firmenkunden der Deutschen Bank, rät Anlegern vor dem Hintergrund bestehender wirtschaftlicher Abwärtsrisiken von einem Einstieg in europäische Aktien ab. Angesichts der Datenlage stellt sich für ihn nicht mehr die Frage, ob Deutschland in eine Rezession fällt - sondern eher, wie schwer sie ausfallen könnte. Bei kleinen bis mittelgroßen Unternehmen solle auf günstigere Einstiegskurse gewartet werden.

Die Stimmung unter den Privatanlegern in Deutschland ist mies, mehr als die Hälfte der von der Deutschen Börse Befragten befindet sich im Lager der Bären, sie setzen also auf fallende Kurse. Die Stimmung ist so schlecht wie im Juli 2020, dem Tiefpunkt in Folge der Corona-Krise. Damals hatte der DAX sein Tief bereits gesehen.

Kontakt zum Autor: thomas.leppert@wsj.com

DJG/thl/raz

(END) Dow Jones Newswires

August 26, 2022 06:08 ET (10:08 GMT)