Von Manuel Priego-Thimmel

FRANKFURT (Dow Jones)--In kürzester Zeit hat die Stimmung an den Börsen gedreht. Vor einer Woche hat der DAX noch bei 16.427 Punkten ein neues Allzeithoch markiert, nun notiert er klar unter der 16.000er-Marke. Es drohen weitere Kursverluste. Vor allem zwei Belastungsfaktoren drücken auf das Sentiment: Zum einen haben die Anleger die Entschlossenheit der Zentralbanken unterschätzt, das Inflationsproblem in den Griff zu bekommen. Zum anderen sind die stark gestiegenen Zinsen nun endlich wachstumsbelastend in der Wirtschaft und den Unternehmen angekommen. Davon zeugt die steigende Zahl von Gewinnwarnungen.

Die Notenbanken meinen es Ernst: US-Notenbankpräsident Jerome Powell sorgte vor dem US-Kongress für Enttäuschung bei den Zinsoptimisten, die seinen bisherigen Begründungen nicht glauben und bereits ein Zinshoch oder sogar Zinssenkungen im Auge haben. Er unterstrich erneut seinen Willen, die Inflation zu bekämpfen und wiederholte, dass noch zwei weitere Zinserhöhungen in diesem Jahr denkbar seien. Die SNB erhöhte den Leitzins wie erwartet um 25 Basispunkte, schloss aber weitere Zinserhöhungen nicht aus. In Norwegen fiel die Zinserhöhung sogar höher als erwartet aus, genau wie bei der Bank of England. EZB-Präsidentin Christine Lagarde hat derweil auf der jüngsten Sitzung für Juli eine weitere Zinserhöhung mehr oder weniger vorangekündigt.


   Europäische Verbraucherpreise dürften im Kern gestiegen sein 

Die am kommenden Freitag anstehenden europäischen Verbraucherpreise dürften im Juni zwar auf 5,5 von 6,1 Prozent gefallen sein. Maßgeblich dafür ist die im Vergleich zum Juni 2022 wohl klar günstigere Entwicklung der Preise für Energie und Nahrungsmittel. "Die EZB dürfte allerdings mehr auf die Kernteuerungsrate schauen, die wohl wieder von 5,3 auf 5,5 Prozent gestiegen ist. Dies dürfte sie ihn ihrer Absicht bestärken, die Leitzinsen im Juli weiter anzuheben, auch wenn der Anstieg maßgeblich statistische Ursachen hat", beschreibt die Commerzbank das Dilemma der EZB.

Derweil werden die massiven Zinserhöhungen seit 2022, die immer zeitverzögert wirken, zunehmend zum Belastungsfaktor für die Wirtschaft. In Europa war es in den vergangenen Monaten der Dienstleistungssektor, der die Region bislang vor einer Rezession bewahrt hat. Dieser gerät aber nun ebenfalls ins Straucheln. Der Einkaufsmanagerindex für das verarbeitende Gewerbe ist im Juni von 44,8 auf 43,6 gesunken, der Index für den Dienstleistungssektor verlor aber deutlicher von 55,1 auf 52,4. Der Sammelindex liegt mit 50,3 Punkten nur noch knapp über der Expansionsschwelle. Wie die VP Bank anmerkt, wirkt der Tourismus in den südeuropäischen Ländern noch stützend, im Herbst dürfte aber Schluss mit den guten Geschäften sein.


   Gewinnwarnungen gewinnen an Breite 

Das sind keine guten Vorzeichen für den am kommenden Montag zur Veröffentlichung anstehenden Ifo-Geschäftsklimaindex. Im Mai ist der Index nach sechs Anstiegen in Folge wieder gefallen. Die Commerzbank geht davon aus, dass sich im Juni insbesondere die Erwartungen weiter eingetrübt haben und der Gesamtindex von 91,7 auf 90,5 gefallen ist (Konsens: 90,0). Denn die Unternehmen dürften mehr und mehr spüren, dass sich das Umfeld sowohl im In- wie auch im Ausland weiter verschlechtert hat. "Das Risiko einer Rezession in der zweiten Jahreshälfte würde in diesem Fall weiter zunehmen", so die Analysten.

Erste Gewinnwarnungen von so unterschiedlichen Unternehmen wie Sartorius, Lanxess, Steico oder Mayr-Melnhof zeigen, dass die Wachstumsschwäche in der Breite der Wirtschaft angekommen ist. Mit weiteren Warnungen ist zu rechnen. Wie Schlimm es werden wird, hängt entscheidend von Tiefe und Dauer der Konjunkturschwäche ab. Noch hoffen die von Berufs wegen optimistisch eingestellten Börsianer darauf, dass den Zentralbanken der Drahtseilakt gelingen wird, einerseits der Wirtschaft die Inflation auszutreiben, andererseits die Wirtschaft aber nicht abstürzen zu lassen.


   Vermeidung einer harten Landung wäre historisch einmalig 

Die Deutsche Bank ist jedenfalls der Meinung, dass die USA erstmalig seit mindestens vier Dekaden auf einen künstlich induzierten Boom-Bust-Zyklus zusteuert. "Die Inflation, die wir sehen, ist in der Hauptsache die Folge einer expansiven Fiskal- und Geldpolitik, und die aggressiven geldpolitischen Maßnahmen, die nötig sind, um die Inflation unter Kontrolle zu bringen, werden nun implementiert", heißt es in einer aktuellen Studie. Die Vermeidung einer "harten Landung" wäre historisch einmalig, geben sich die Analysten skeptisch über die Erfolgsaussichten eines solchen Vorhabens.

Aber nicht nur für die USA und die Eurozone sehen Beobachter zunehmend Schwarz. Auch von dem erhofften Öffnungsboom in China nach dem Ende der strikten Corona-Regeln werden wohl keine durchgreifenden Wachstumsimpulse für die Weltwirtschaft ausgehen, befürchtet die DZ-Bank. "Einfache Rahmenbedingungen für die Aktienmärkte sollten anders aussehen", stellen die Analysten fest. Dem darf man zustimmen. Eins scheint sicher - die Volatilität wird in den kommenden Tagen und Wochen wohl steigen. Und hier gilt: Volatilitätsschübe stellen fast immer eine gute Gelegenheit dar, billiger Aktien zu kaufen bzw nachzukaufen.

Kontakt zum Autor: manuel.priego-thimmel@wsj.com

DJG/mpt/ros

(END) Dow Jones Newswires

June 23, 2023 07:30 ET (11:30 GMT)