Referat

Sperrfrist

23. September 2022,

18.00 Uhr

Ordnungspolitischen Prinzipien Sorge tragen

Referat an der Universität Luzern

Thomas J. Jordan

Präsident des Direktoriums* Schweizerische Nationalbank Luzern, 23. September 2022 © Schweizerische Nationalbank

  • Der Referent dankt Christoph Hirter und Tanja Zehnder für die Unterstützung bei der Erstellung dieses Textes. Sein Dank geht auch an Claudia Aebersold, Petra Gerlach, Carlos Lenz, Alexander Perruchoud und den Sprachendienst der SNB.

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Sehr geehrte Damen und Herren

Die heutige Veranstaltung stellt die Frage «Ist Geldpolitik heute noch Ordnungspolitik?» in den Mittelpunkt. Ich gratuliere der Universität Luzern zur Wahl dieses wichtigen Themas. Denn Diskussionen rund um die Ordnungspolitik sind in der letzten Zeit etwas in den Hintergrund gerückt. Für die Schweizerische Nationalbank (SNB) sind ordnungspolitische Prinzipien - insbesondere jene, die die Geldpolitik betreffen - aber nach wie vor von hoher Bedeutung. Ich freue mich deshalb, unsere Sicht auf dieses Thema aufzuzeigen.

In meinen Ausführungen werde ich das Augenmerk denn auch auf die Schweiz und die SNB legen. Zunächst werde ich darauf eingehen, warum für die Nationalbank die Unabhängigkeit von der Politik und ein klarer Fokus auf die Gewährleistung der Preisstabilität zwei eng verbundene ordnungspolitische Prinzipien sind. Anschliessend werde ich aufzeigen, warum eine Reihe von politischen Vorstössen, die in jüngerer Vergangenheit lanciert wurden, diesen ordnungspolitischen Prinzipien widersprechen. Zum Schluss möchte ich noch die aktuelle Geldpolitik der SNB erläutern.

Enges Mandat und Unabhängigkeit als Fundament

Gemeinhin umfasst Ordnungspolitik alle Massnahmen, mit denen der Staat die grundlegenden Rahmenbedingungen für die längerfristige Entwicklung der Wirtschaft setzt. Wenn der Staat dabei sinnvolle Prinzipien befolgt, schafft er die Voraussetzungen dafür, dass die Wirtschaft ihr Potenzial bestmöglich entfaltet und der Wohlstand der Bevölkerung über die Zeit steigt. Ein wesentlicher Bestandteil guter Rahmenbedingungen bzw. guter Ordnungspolitik ist Preisstabilität. Denn ohne Preisstabilität ist ein reibungsloses Funktionieren der Wirtschaft undenkbar. So behindern Inflation aber auch Deflation die Lenkungsfunktion der Preise, um Arbeit und Kapital möglichst produktiv einzusetzen. Inflation reduziert aber auch die Kaufkraft der Haushalte und trifft insbesondere sozial schwächere Gruppen. Damit die Preisstabilität langfristig gewährleistet werden kann, sind zwei ordnungspolitische Prinzipien zentral:

  • Erstens muss die Preisstabilität die massgebliche Richtschnur für die Geldpolitik darstellen
  • und zweitens muss die Zentralbank unabhängig von der Politik sein.

Beide Prinzipien spiegeln sich heute in den Gesetzen vieler Länder. In der Schweiz ist die Unabhängigkeit der Zentralbank in der Bundesverfassung verankert. Dies bedeutet, dass die Nationalbank weder von der Politik noch von anderen Stellen Weisungen entgegennehmen oder einholen darf. Ebenso hält die Verfassung fest, dass die SNB eine Geldpolitik im Gesamtinteresse des Landes zu führen hat. Das Nationalbankgesetz konkretisiert diesen Auftrag und gibt vor, dass die SNB mit ihrer Geldpolitik die Preisstabilität zu gewährleisten und dabei der konjunkturellen Entwicklung Rechnung zu tragen hat. Die SNB verfügt denn auch über geeignete und wirksame Instrumente, um das Zinsniveau wie auch den Wechselkurs, und damit die monetären Bedingungen zu beeinflussen. Die Angemessenheit

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der monetären Bedingungen bestimmt, ob die Preisstabilität in der langen Frist gewährleistet werden kann.

Wieso aber wird eine wirtschaftspolitisch derart wichtige Aufgabe wie die Geldpolitik überhaupt an eine unabhängige Institution delegiert?

Der wichtigste Grund hierfür ist, dass Regierungen grundsätzlich einen Anreiz haben, die Geldpolitik für andere Zwecke als die Preisstabilität einzusetzen. Zum Beispiel haben Regierungen ein Interesse, die Konjunktur vor Wahlen anzukurbeln. Eine weitere Absicht einer Regierung kann die Finanzierung von Staatsausgaben über die Notenpresse sein. Verfolgt die Geldpolitik solche Zwecke, führt dies über die Zeit unweigerlich zu hoher Inflation. Eine unabhängige Zentralbank hingegen unterliegt nicht den gleichen Anreizen und ist von der Einflussnahme der Regierung geschützt. Sie kann - und muss - sich deshalb voll und ganz auf ihren Auftrag konzentrieren, die Preisstabilität aufrechtzuerhalten.

Die Unabhängigkeit der Zentralbank beruht also auf der Überzeugung, dass Preisstabilität für die Gesellschaft als Ganzes wünschenswert ist und nur mit einer Geldpolitik langfristig gesichert werden kann, die vor politischer Einflussnahme geschützt ist. Die Unabhängigkeit ist denn auch in vielen Währungsräumen eng mit dem Mandat der Preisstabilität verknüpft. So auch in der Schweiz: Um die Unabhängigkeit zu legitimieren, hat der Gesetzgeber das Mandat der SNB bewusst eng und klar definiert. Gleichzeitig fordert er von der SNB Rechenschaft über die Mandatserfüllung. Das Verfolgen anderer Ziele, die über das Kernziel der Preisstabilität hinausgehen, würde die Legitimität der Unabhängigkeit untergraben und sie damit über die Zeit gefährden.

Fokus auf Preisstabilität

Der institutionelle Rahmen der SNB steht im Einklang mit den beiden beschriebenen ordnungspolitischen Prinzipien, das heisst Fokussierung auf die Preisstabilität und Unabhängigkeit von der Politik. Von Teilen der Politik und der Öffentlichkeit wurden diese Prinzipien in den letzten Jahren immer wieder bewusst oder unbewusst in Frage gestellt. So kamen Vorstösse aus der Politik, die von der SNB eine direkte Finanzierung von Staatsaufgaben fordern. Zum Beispiel wurde im Frühling eine Volksinitiative für eine Anpassung der Verfassung lanciert, die der Nationalbank eine direkte Rolle bei der Finanzierung der Altersvorsorge zuweisen möchte. Bevor ich darauf eingehe, warum eine direkte Finanzierung von Staatsaufgaben durch die Nationalbank nicht im Einklang mit den ordnungspolitischen Prinzipien steht, ist es hilfreich, zunächst die Gewinnentwicklung der SNB einzuordnen. Denn die gestiegenen Begehrlichkeiten dürften vor allem mit der Zunahme unserer Bilanz und unseren hohen Gewinnen in den vergangenen Jahren zu tun haben.

Die hohen Gewinne haben zu einem Anstieg unserer sogenannten Ausschüttungsreserve geführt. Ende 2021 betrug sie 103 Mrd. Franken. Die Ausschüttungsreserve besteht, weil die

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SNB nicht den gesamten ausschüttbaren Gewinn auf einmal auszahlt1. Die Ausschüttungsreserve entspricht in der Bilanz einem Gewinn- bzw. Verlustvortrag und stellt Eigenkapital der SNB dar. Sie dient der Verstetigung unserer jährlichen Ausschüttungen an Bund und Kantone und wirkt so wie ein Puffer, der die Schwankungen zwischen Jahren mit Gewinnen und Jahren mit Verlusten ausgleicht.

Die Höhe der Ausschüttungsreserve in den letzten Jahren hatte zur Folge, dass manche Beobachter das Ausschüttungspotenzial der SNB überschätzen und die jährlichen Ausschüttungen von maximal 6 Mrd. Franken pro Jahr als zu gering betrachten.

Die guten Ergebnisse der vergangenen Jahre fielen aber in einem aussergewöhnlichen Finanzmarktumfeld an. Dieses war geprägt von global rückläufigen Zinsen, tiefer Inflation, hoher Liquidität und steigenden Aktienkursen. Dieses Umfeld hat sich nun aber stark verändert. Im ersten Halbjahr 2022 sind die Zinsen weltweit angestiegen und die Aktienmärkte gaben nach, was zu deutlichen Kursverlusten auf unseren Anleihen und Aktien führte. Akkumulierte Buchgewinne der Vergangenheit wurden durch einen Buchverlust aufgelöst. So verzeichnete die SNB für das erste Halbjahr 2022 einen Verlust von rund

95 Mrd. Franken, was praktisch der gesamten Ausschüttungsreserve entspricht.

Die gegenwärtige Gewinnausschüttungspraxis ist somit nicht übervorsichtig, wie oft kritisiert wird. Der Halbjahresverlust verdeutlicht, dass eine grössere Bilanz auch mit grösseren absoluten Schwankungen der Jahresergebnisse einhergeht, und dass auf hohe Gewinne hohe Verluste folgen können. Dies zeigt klar, warum der Staat seine Finanzierung nicht von SNB- Gewinnen abhängig machen darf. Und damit komme ich zur Problematik einer direkten Finanzierung von Staatsaufgaben durch die Nationalbank.

Eine direkte Finanzierung von Staatsaufgaben durch die SNB schafft eine Situation, in der die Erfüllung dieser Aufgaben direkt von der Geldpolitik abhängig wird. Denn unsere Geldpolitik beeinflusst unter Umständen unser Jahresergebnis, und dadurch auch die Ausschüttung. So kann bspw. eine straffere Geldpolitik zu einer Aufwertung des Frankens führen, was den Erfolg auf unseren Fremdwährungsanlagen, umgerechnet in Franken, schmälert. Durch die direkte Verknüpfung von bestimmten Staatsaufgaben mit den Ausschüttungen der Nationalbank erhalten geldpolitische Entscheide deshalb eine politische Dimension. Der politische Druck auf das Führen der Geldpolitik nimmt so zwangsläufig zu, was die Unabhängigkeit der SNB gefährdet.

Zudem verwischt eine direkte Finanzierung von Staatsaufgaben die klare Ausrichtung der Geldpolitik auf die Preisstabilität. Denn die direkte Verknüpfung von Staatsaufgaben mit den Erträgen der Nationalbank kann zu unnötigen Zielkonflikten bei geldpolitischen Entscheiden führen. Dies kann wiederum Zweifel wecken, ob die SNB jederzeit konsequent die nötigen Massnahmen ergreift, um die Preisstabilität zu gewährleisten. Solche Zweifel können

1 Zur Ausschüttungspraxis siehe Jordan, Thomas J. (2021), Ausschüttungen der Nationalbank - trotz hoher Gewinne keine Selbstverständlichkeit, Referat an der 113. Ordentlichen Generalversammlung der Aktionäre, Zürich, 30. April 2021.

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schlussendlich dazu führen, dass eine höhere Inflation erwartet wird und erschwert daher die Geldpolitik.

Forderungen nach einer direkten Finanzierung von Staatsaufgaben durch die SNB sind also aus einer ordnungspolitischen Perspektive klar abzulehnen. Die Geldpolitik der SNB darf sich nicht an Gewinnen oder Verlusten orientieren. Diese sind nur ein Nebenprodukt unserer Geldpolitik. Unser Auftrag ist es, eine Geldpolitik zu führen, die mittel- und langfristig die Preisstabilität gewährleistet und dabei der konjunkturellen Entwicklung Rechnung trägt. Preisstabilität ist der wichtigste Beitrag, den die SNB für unser Land leisten kann. Die SNB wird sich darum weiterhin für einen überzeugenden ordnungspolitischen Rahmen für die Geldpolitik einsetzen.

Gewährleistung der Preisstabilität als Herausforderung

Meine Damen und Herren, gerade die heutige Situation macht klar, wie zentral die Fokussierung der Zentralbanken auf die Preisstabilität ist. Denn das Umfeld für die Geldpolitik hat sich durch die Pandemie und den Krieg in der Ukraine deutlich verändert. Nach Jahren der expansiven Geldpolitik, die der Verhinderung von zu tiefer Inflation diente, sind heute die Zentralbanken vieler Länder gefordert, eine zu hohe Inflation zu bekämpfen. Lassen Sie mich darum zum Schluss auf die aktuelle Geldpolitik der SNB zu sprechen kommen.

In der Schweiz ist die Inflation im Vergleich zum Ausland zwar tiefer. Doch auch hierzulande ist sie deutlich stärker angestiegen, als gemeinhin erwartet wurde. Die Inflation liegt mit aktuell 3,5% auf dem höchsten Niveau seit den 1990er-Jahren. Das ist deutlich über dem Bereich, den die SNB mit Preisstabilität gleichsetzt. Wir definieren Preisstabilität als eine Situation, in der die Inflation auf mittlere Frist zwischen 0 und 2% liegt.

Wie geht die SNB mit dieser Situation um? Unsere erste Reaktion auf den sich abzeichnenden Inflationsdruck erfolgte bereits in den letzten Monaten des vergangenen Jahres. Zu diesem Zeitpunkt befand sich die Inflation und auch unsere damalige Inflationsprognose, noch auf einem tiefen Niveau. Im Ausland war die Inflation aber bereits deutlich angestiegen. Um den Inflationsdruck aus dem Ausland zu verringern, kommunizierten wir an der Lagebeurteilung im Dezember 2021, dass die SNB eine gewisse nominale Aufwertung des Frankens zulassen würde. Der Franken wertete sich zwischen Herbst 2021 und Frühjahr 2022 nominal um rund 4% auf. Die nominale Aufwertung verbilligte die Importe und wirkte so dem generellen Preisanstieg entgegen. Im Juni 2022 erhöhten wir dann den SNB-Leitzins um einen halben Prozentpunkt auf -0,25%. Gestern haben wir die Geldpolitik weiter gestrafft und den SNB- Leitzins um 0,75 Prozentpunkte auf 0,5% erhöht. Es ist nicht auszuschliessen, dass weitere Zinserhöhungen nötig sein werden, um die Preisstabilität in der mittleren Frist zu gewährleisten. Um für angemessene monetäre Bedingungen zu sorgen, sind wir zudem bei Bedarf bereit, am Devisenmarkt aktiv zu sein.

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SNB - Swiss National Bank published this content on 23 September 2022 and is solely responsible for the information contained therein. Distributed by Public, unedited and unaltered, on 23 September 2022 16:12:08 UTC.