Von James Mackintosh

NEW YORK (Dow Jones)--Der heißeste Anlagetrend an der Wall Street heißt ESG, eine Chiffre für ethisches und nachhaltiges Investieren. Unternehmen werden dabei an den Kriterien von Umweltverträglichkeit, sozialer Verantwortung und guter Unternehmensführung gemessen mit dem Ziel, Anleger vor möglichen Fallstricken zu bewahren.

Im Fall von Credit Suisse hätten Anleger wegen ihrer ESG-Bewertungen bei der Unternehmensführung ein Desaster erwarten können - allerdings nur, wenn sie dazu die richtige Rating-Agentur gewählt hätten. Weil die Schweizer Bank je nach Rating-Agentur entweder exzellente, miserable oder indifferente Noten erhält, sollte es fast sicher sein, dass man richtig liegt.

Die Credit Suisse hat gerade ihren Verwaltungsratspräsidenten António Horta-Osório verloren. Er trat zurück, nachdem sich herausstellte, dass er wiederholt gegen Covid-19-Quarantänebestimmungen verstoßen hat. Der aktuelle CEO bekam seinen Job, nachdem sein Vorgänger in die Wüste geschickt wurde, als klar wurde, dass er einen ehemaligen Mitarbeiter hatte bespitzeln lassen. Beide standen vor der Aufgabe, die Credit Suisse wieder aufzurichten. Das Schweizer Geldhaus hat einen schlechten Ruf, seitdem es verpfuschte Risikokontrollen einräumen musste, nachdem hohe Verluste bei der Kreditvergabe an den gescheiterten Hedgefonds Archegos Capital und den Supply-Chain-Finanzierer Greensill Capital aufliefen.


 Governance-Experten bei der Bank weit auseinander 

Die Rating-Agenturen können sich allerdings nicht darauf einigen, ob die problematische Unternehmensführung der Bank eigentlich ein Problem darstellt, geschweige denn, wie ihr ESG-Gesamtscore im Vergleich zu globalen Konkurrenten ausfallen sollte. Dies ist symptomatisch für die der großen Schwierigkeiten, die jene haben, die ESG als einen Weg propagieren, um mit Hilfe des Kapitals die Welt zum Besseren zu verändern: Wenn Experten schon in einer so essenziellen Frage wie der guten Unternehmensführung völlig unterschiedlicher Meinung sind, wie lässt sich dann erst Einigkeit bei kontroverseren Themen wie Umweltfragen, Umgang mit Beschäftigten oder sozialen Folgen von unternehmerischem Handeln erwarten?

Unter den Rating-Agenturen kritisiert S&P Global die Unternehmensführung der Credit Suisse am deutlichsten. Hier gab es für Corporate Governance nur 15 Prozent und damit Platz 725 von 747 Banken und Finanzkonzernen weltweit, die S&P bewertet. Das sind weit weniger als jene 83 Prozent, die JP Morgan bekam, oder die 89 Prozent von Goldman Sachs. Insgesamt jedoch schnitt Credit Suisse mit einer Bewertung von 57 Prozent besser ab als JP Morgan oder Goldman, weil S&P die Schweizer im Hinblick auf ökologische, soziale und ökonomische Kriterien als überdurchschnittlich gut einstuft. Seltsamerweise fasst S&P "Governance" und "Ökonomie" in einer Kategorie zusammen, die für das "G" in ESG steht.


 Refinitiv unkritisch, MSCI nennt Schweizer Bank mittelmäßig 

Refinitiv, eine Tochter der Londoner Börse, beurteilt Credit Suisse am wenigsten kritisch. Sie gibt der Bank in der Kategorie "Management", die sich auf den Verwaltungsrat konzentriert, eine Bewertung von 95 Prozent und in der Kategorie "Governance" insgesamt eine Bewertung von 81 Prozent. Das liegt in etwa auf dem Niveau ihrer ESG-Gesamtbewertung, die damit jener von JP Morgan und Goldman vergleichbar ist. MSCI rangiert in der Mitte. Die Indexfirma stuft Credit Suisse neben JP Morgan und Goldman Sachs als Unternehmen mit durchschnittlicher Unternehmensführung ein und gibt ihr wie jenen ein Single-A-Rating, das Rang drei auf einer Skala von eins bis sieben darstellt.

Truvalue Labs, Teil von Factset, stuft Credit Suisse insgesamt als unterdurchschnittlich ein und gibt ihr eine Bewertung von 32 Prozent für die Unternehmensführung - das liegt zwischen den 34 Prozent für JP Morgan und 29 Prozent für Goldman. Sustainalytics, ein Unternehmen des Finanzdatenanbieters Morningstar, bewertet Credit Suisse mit einem durchschnittlichen ESG-Risiko, das im Mittelfeld der weltweiten Banken rangiert. JP Morgan wird als etwas risikoreicher und Goldman als etwas weniger risikoreich eingestuft.


 Differenzen bei den Kriterien 

Gründe für die teils sehr unterschiedlichen Bewertungen herauszufinden, ist nicht ganz einfach. Die hohe Punktzahl bei Refinitiv ist wohl darauf zurückzuführen, dass hier alle sogenannten "Kontroversen" von der ESG-Bewertung separiert werden, während andere Bewertungen diese oft einbeziehen. Greensill, Archegos, die Bespitzelung und ein Korruptionsskandal in Mosambik kosteten in der S&P-Bewertung der Corporate Governance von Credit Suisse satte 62 Punkte.

Andere Unterschiede betreffen die Bedeutung, die verschiedenen Aspekten der Unternehmensführung beigemessen wird - darunter Vielfalt im Vorstand, Vorstandsrichtlinien, unabhängige Direktoren, Trennung der Ämter von Chairman und CEO. Auch ist die Frage, ob dort, wo Unternehmen keine Daten offenlegen, Schlussfolgerungen gezogen oder Schätzungen vorgenommen werden dürfen. Differenzen ergeben sich auch bei der Frage, ob fehlende Informationen selbst schon negative Folgen für die Bewertung haben sollten.


 ESG hat als Konzept Grenzen 

Credit Suisse ist bei weitem nicht die einzige Bank, die in einzelnen ESG-Kategorien sehr unterschiedliche Bewertungen erfährt, und das führt dazu, dass die betrachteten Firmen auch insgesamt auf sehr unterschiedliche Bewertungen kommen. Für Anleger, die ihr Geld auf die "richtige" Art und Weise einsetzen wollen, kann dies sehr frustrierend sein. Es ist aber zugleich unvermeidlich, da es in diesen Fragen weder eine absolute Wahrheit noch eine weit verbreitete Einigkeit darüber gibt, was denn richtig sein soll.

Der Fall Credit Suisse zeigt, wie schwierig es ist, selbst unter ESG-Experten eine Einigung darüber zu erzielen, was als gute oder schlechte Unternehmensführung gelten soll. Bei "E" wie Environment und "S" wie Social wird die Sache noch schwieriger. Selbst wenn sich verschiedene Rating-Anbieter darauf einigen könnten, wie die zugrunde liegenden Daten zu bewerten sind - was sie nicht tun -, bleiben Fragen offen. Wie etwa sollten Treibhausgasemissionen gegen Wasserverbrauch oder Folgen eines Geschäftsmodells für die Artenvielfalt abgewogen werden? Ist die Sicherheit der Mitarbeiter mehr oder weniger wichtig als das Engagement für die Kunden? Ist es wichtiger, gleiches Entgelt nach Geschlecht oder nach Hautfarbe zu zahlen? Es liegt auf der Hand, dass vernünftige Menschen hier unterschiedlicher Meinung sind, zumal auch Investoren unterschiedliche Prioritäten haben.


 Kredit-Ausfallrisiken viel objektiver zu messen 

All dies kontrastiert zu den Bonitätsbewertungen von Unternehmen, die in der Regel sehr ähnlich sind, unabhängig davon, von welcher Ratingagentur sie stammen. Bei der Kreditvergabe spielen Moral und Sittlichkeit nämlich keine Rolle. Es zählt ausschließlich, ob ein Unternehmen seine Schulden pünktlich bedienen kann und wird. In dieser Frage herrscht zwischen den großen Rating-Agenturen weitgehend Einigkeit, sowohl was die Daten selbst angeht, als auch darüber, inwiefern sie wichtig sind.

Vielleicht lassen sich ESG-Ratings am besten mit den Kauf-, Verkaufs-und Halteempfehlungen der Wall-Street-Analysten vergleichen. Es handelt sich um Meinungen. Die sie vertreten, werden manchmal richtig und manchmal falsch liegen. Anleger können entscheiden, wem sie dabei mit welchem Ansatz folgen und dabei Beachtung schenken. Aber wie bei einer Analystenempfehlung besteht der Wert eines Ratings vornehmlich aus der Diskussion der versammelten Einschätzungen und nicht aus deren Bewertung selbst.

Sollten Sie das bezweifeln, werfen Sie einen Blick auf die Geschäftsmodelle von S&P, Refinitiv, MSCI und Sustainalytics. Alle vier verschenken jetzt ihre ESG-Bewertungen, verlangen aber für den vollständigen Bericht eine Gebühr.

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January 18, 2022 06:13 ET (11:13 GMT)