(Wiederholung vom Vorabend)

Von Andreas Kißler

BERLIN (Dow Jones)--Führende Ökonomen haben mit Erleichterung darauf reagiert, dass mit dem Ergebnis der Bundestagswahl ein rot-rot-grünes Regierungsbündnis ausgeschlossen scheint, und von der neuen Regierung unter anderem Reformen bei der Rente und klare Entscheidungen in der Klimapolitik gefordert. "Das wichtigste Ergebnis ist, dass Rot-Rot-Grün keine Mehrheit hat", erklärte der Präsident des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung, Clemens Fuest. "Damit ist ein deutlicher Linksruck in der deutschen Wirtschafts- und Finanzpolitik vom Tisch", hob Fuest in einem Statement für Dow Jones Newswires hervor.

Gleichzeitig veränderten sich damit die strategischen Rahmenbedingungen für Koalitionsverhandlungen. "Wenn die SPD am Ende stärkste Partei ist, wird für Olaf Scholz eine große Koalition zur einzigen Alternative zur Ampel", erklärte Fuest. Für die Ampel müsste die SPD nach Überzeugung des Institutschefs "einen sehr hohen Preis an die FDP zahlen" und ihr vor allem in der Steuerpolitik weit entgegenkommen. Das spreche dafür, dass am Ende auch eine große Koalition herauskommen könnte. "In jedem Fall bedeutet dieses Wahlergebnis Kontinuität in der deutschen Wirtschafts- und Finanzpolitik", betonte Fuest aber.

Auch der Präsident des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH), Reint Gropp, und der Leiter des Prognosezentrums im Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW), Stefan Kooths, zeigten sich erfreut darüber, dass es nicht für eine Koalition der SPD mit Grünen und Linken reichen dürfte. "Es gibt gute Neuigkeiten, die guten Neuigkeiten sind erst einmal, dass Rot-Rot-Grün wahrscheinlich nicht möglich ist, als Ökonom ist das gut", sagte Gropp zu Dow Jones Newswires. "Und es ist sicher auch gut, dass die AfD nicht noch stärker geworden ist, sondern eher verloren hat." Alles andere sei aber noch unklar, nun gehe es um die Schnittmengen der Parteien und darum, wer am Ende vorne liege.


   Unsicherheit ist Gift 

Bei einer Ampel werde sich Olaf Scholz "mit den Liberalen auseinandersetzen müssen", was etwa den Mindestlohn, staatliche Investitionen, Einwanderung, Klimaschutz oder Steuern angehe. Gropp forderte, die neue Regierung müsse den Mittelstandsbauch bei den Steuern abbauen, endlich auch "die demografische Entwicklung" bei den Renten ernst nehmen und sich auf einen Weg einigen, wie man mit dem Klimawandel umgehe. Auch müsse sie es attraktiver machen, auf den deutschen Arbeitsmarkt zu kommen, etwa durch eine bessere Anerkennung von Abschlüssen. Ausdrücklich warnte der IWH-Präsident vor langen Koalitionsverhandlungen. "Unsicherheit ist natürlich Gift", sagte Gropp. Gerade private Investoren würden wohl eher abwarten.

Kooths erklärte, da es "für ein rot-rot-grünes Bündnis nicht zu reichen scheint", würden nun "auch die Verhandlungsmöglichkeiten neu sortiert". Es scheine, "dass die Wahrscheinlichkeit für eine Jamaika-Koalition deutlich gestiegen ist". Ganz wesentlich sei, "das man auf allen Politikfeldern mit den Marktkräften und nicht immer gegen die Marktkräfte spielt". Das müsste so etwas wie eine verbindende Klammer sein, verlangte der Kieler Ökonom.

Auch Kooths forderte von der neuen Regierung unter anderem Maßnahmen in der Alterssicherung. "Dort lügen sich diejenigen in die Tasche, die meinen, es könnte alles so bleiben, wie es ist." Damit hänge zusammen, dass man "in ein Jahrzehnt schrumpfender Wachstumskräfte" gehe. "Es wäre sinnvoll, sich am Anfang ehrlich zu machen und den ökonomischen Realitäten ins Auge zu blicken", mahnte er. Es gäbe größere Chancen, dass sich dies in einer Jamaika-Koalition realisieren lasse.


   Regierung muss in Klimapolitik handeln 

Der Präsident des RWI - Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung, Christoph Schmidt, machte sich in einem Statement für Dow Jones Newswires ebenfalls für einen marktwirtschaftlichen Weg beim Klimaschutz stark. Der Wahlkampf habe sich weitgehend darauf konzentriert, welche Ziele im Bereich der Klimapolitik angestrebt würden. "Die neue Bundesregierung muss nun handeln", forderte er. "Sie sollte dabei auf einen marktwirtschaftlichen Weg setzen, der über einen höheren CO2-Preis unternehmerische Initiative und Kreativität beflügelt." Er hoffe sehr, dass die neue Bundesregierung diesen Weg beschreiten werde.

"Zudem steht die deutsche Wirtschaft erheblich unter Druck", erklärte der frühere Vorsitzende der fünf Wirtschaftsweisen. Der Fachkräfte-Engpass am Arbeitsmarkt werde sich verschärfen, weil in den nächsten Jahren Millionen erfahrene Beschäftigte in den Ruhestand wechselten. "Da zudem deren Lebenserwartung steigt, wird es nötig sein, die Phase der Erwerbstätigkeit zu verlängern", hob er hervor. Die Regierung Merkel habe hier mit der Rente ab 63 und der Mütterrente die Weichen in die falsche Richtung gestellt. "Die neue Bundesregierung wird nicht darum herumkommen, hier umzusteuern, um das deutsche Rentensystem zukunftsfest zu machen", betonte Schmidt.

Der Chef des gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK), Sebastian Dullien, erklärte, es komme darauf an, "dass sich jetzt die politischen Kräfte zusammenfinden, die die großen Aufgaben für das Land angehen". Das seien mangelnde Investitionen in die Infrastruktur und die Frage, wie man die Klimawende auch sozial so gestalte, dass es keinen "politischen Kipppunkt" gebe, an dem extreme Ränder gestärkt würden. "Es ist die Aufgabe, dass wir dafür eine Koalition finden", sagte Dullien. Unter anderem gelte es dafür, "zu einem rationalen Umgang mit Staatsverschuldung" zu kommen.

Kontakt zum Autor: andreas.kissler@wsj.com

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September 27, 2021 00:30 ET (04:30 GMT)