Von Jon Sindreu

NEW YORK (Dow Jones)--Eine Frage müssen Anleger vor Investmententscheidungen derzeit ins Kalkül ziehen. Bevor sie nämlich Aktien eines Unternehmens kaufen, das vom Konsumboom nach der Pandemie profitieren soll, drängt sich eine Frage auf: Werden sie das Geld ausgeben, das Sie während der Pandemie gespart haben?

Die Wirtschaftszahlen für das Jahr 2021 werden atemberaubend sein. In der vergangenen Woche meldete die Eurozone, dass das Bruttoinlandsprodukt (BIP) im zweiten Quartal um 13,7 Prozent gegenüber dem Vorjahresquartal gestiegen ist. In den USA wuchs die Wirtschaftsleistung um einen ähnlichen Betrag, was auf einen Anstieg der persönlichen Konsumausgaben um 11,8 Prozent auf Jahresbasis zurückzuführen ist. Dies ist die zweitschnellste Rate seit 1952 und liegt nur noch hinter dem dritten Quartal des vergangenen Jahres.


 
Hohe Nettovermögenszuwächse in den USA und im Euroraum 
 

Investoren und politische Entscheidungsträger gehen davon aus, dass dieser plötzliche Nachholbedarf zu einer anhaltenden Periode lebhaften Wirtschaftswachstums führt. Das Nettovermögen der US-Haushalte ist während der Pandemie um 18 Billionen US-Dollar geklettert, was zum Teil der erweiterten Arbeitslosenversicherung und den Konjunkturpaketen zu verdanken ist. Forscher des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) haben derweil herausgefunden, dass die Haushalte in der Eurozone im Jahr 2020 rund 600 Milliarden Euro überschüssige Ersparnisse anhäuften. Das sind 5 Prozent des BIP von 2019, wobei 45 Prozent davon auf fehlende Konsummöglichkeiten zurückzuführen sind.

Bislang zeigen die Daten, dass die Menschen unbedingt zur Normalität zurückkehren wollen. Die eigentliche Frage ist jedoch, ob sie die verlorenen Zeiten durch Konsum ausgleichen werden. In letzter Zeit haben sich in einigen der Zahlen, die Analysten zur Beurteilung der Erholung in Echtzeit heranziehen, besorgniserregende Muster eingeschlichen. So überschritten die Kreditkartenausgaben, die Nutzung von Verkehrsmitteln und die Restaurantreservierungen sowohl der US-Amerikaner als auch der Briten offenbar wieder ihren Höhepunkt. Die Kinobesuche sind auf einem Niveau weit unter dem, was einst als normal galt, stehen geblieben. Offiziellen Daten zufolge ist der Verbrauch von Dienstleistungen in allen Bereichen nach wie vor äußerst schwach.


 
Angst vor Coronavirus-Varianten 
 

Coronavirus-Varianten sind da ein großes Problem. Sie stellen den Aufschwung in Asien in Frage und haben die Einzelhandelsumsätze im Vereinigten Königreich und in der Eurozone stark belastet - obwohl die zuletzt veröffentlichten Zahlen für Juni eine ermutigende Erholung zeigten. Nichts von alledem bedeutet, dass die Ausgaben von einer Klippe fallen werden. Die Impfstoffe sind so gut wie eine Garantie dafür, dass die Weltwirtschaft von nun an in der Lage sein wird, die Pandemie zu bewältigen.

Sollte sich die Erholung der Verbraucher jedoch als zu stark schwankend erweisen, könnte dies die Stimmung an den Märkten beeinträchtigen. Die Prognosen der Wall Street-Analysten für "zyklische" Verbraucherunternehmen gehen davon aus, dass die Haushalte ihre angesammelten Ersparnisse über einen längeren Zeitraum aufbrauchen werden, so dass die Umsätze 2022 deutlich über dem Niveau liegen werden, das sie ohne Covid-19 erreicht hätten, wie Factset-Daten zeigen. Auch in anderen Branchen wurden die Prognosen nach oben korrigiert, allerdings nicht annähernd so stark.


 
Traumgeschäfte bei Volkswagen, Daimler und Toyota 
 

In Nordamerika dürften die Umsätze dieser Unternehmen im Jahr 2022 um 31 Prozent höher liegen als 2019. Vor der Pandemie wurde für das nächste Jahr nur ein Anstieg um 16 Prozent vorhergesagt. Im Ausland, insbesondere in Westeuropa, gleichen die Umsatzprognosen den größeren Teil der Einkommensverluste im Jahr 2020 nicht vollständig aus, sind aber immer noch deutlich höher als vor der Pandemie. In der Kategorie "zyklische Konsumgüter" stehen die Automobilhersteller an der Spitze, allen voran Volkswagen, Toyota und Daimler, die wegen eines weltweiten Mangels an Mikrochips mit Produktionsengpässen konfrontiert sind. Engpässe bei Baumaterialien wirken sich ebenfalls auf spezialisierte Einzelhändler wie Home Depot und Lowe's aus.

Es wird erwartet, dass der Nachholbedarf die Umsätze von Bekleidungsherstellern wie Nike und dem Zara-Eigentümer Inditex sowie von Luxusunternehmen wie LVMH und Essilor-Luxottica ankurbeln wird. Basiskonsumgüterunternehmen wie Walmart, Amazon und Nestlé waren von der Pandemie nicht wirklich betroffen, haben aber ihre Umsatzprognosen trotzdem großzügig nach oben korrigiert.


 
Sparquoten dürften laut der Wall Street massiv einbrechen 
 

Damit sich die Prognosen der Wall Street bewahrheiten, müssen die Sparquoten, die 2020 bei 20 Prozent rangierten, wahrscheinlich unter die historischen Durchschnittswerte der vergangenen Jahre fallen, und zwar schneller als üblich. Eine historische Analyse der Industrieländer durch Jamie Thompson von Oxford Economics deutet darauf hin, dass dies durchaus möglich ist, da ein schnellerer Anstieg der Sparquoten oft einen ebenso schnellen Rückgang nach sich zieht. Die Daten zeigen aber auch, dass in solchen Phasen viel davon abhängt, ob das Gesamtwachstum stark genug ist. Zum jetzigen Zeitpunkt wird für die meisten Länder immer noch ein dauerhafter Produktionsverlust wegen der Pandemie prognostiziert. Die USA sind die große Ausnahme.

Deshalb ist es gefährlich anzunehmen, dass die Verbraucher in der ganzen Welt, die in diesem Jahr keine Autos oder Hausrenovierungen anschaffen können, dies einfach auf das nächste Jahr verschieben. Wenn sich die Coronavirus-Varianten hartnäckig halten oder der Aufschwung auf dem Arbeitsmarkt ins Stocken gerät, könnte der anfängliche Ausgabenspurt im Jahr 2022 zu einem Kater führen, statt zu einem weiteren Jahr des starken Aufschwungs.


 
Aus einem Vermögenszuwachs heraus wird relativ wenig konsumiert 
 

Untersuchungen zeigen, dass Haushalte dazu neigen, alles, was sie als Einkommenszuwachs wahrnehmen, schnell zu verbrauchen, aber weit weniger geneigt sind, aus einem Vermögenszuwachs heraus zu konsumieren. Je länger die Normalisierung der Wirtschaft dauert, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie pandemische Ersparnisse als letzteres ansehen. Dies gilt umso mehr, als die größten Bargeldzuwächse auf den Bankkonten älterer, wohlhabenderer Menschen mit geringerer Konsumneigung zu verzeichnen waren, wie aus der jüngsten Prognose der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hervorgeht. Vieles wird davon abhängen, ob die Behörden ihre aktivistische Finanzpolitik bis weit in das Jahr 2022 hinein fortsetzen oder ob sie beschließen, die Konjunkturprogramme vorzeitig zurückzufahren. Ja, die Konsumzahlen für 2021 werden glänzend aussehen. Ob sie sich halten, ist noch nicht ausgemacht.

Kontakt zum Autor: konjunktur.de@dowjones.com

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August 06, 2021 10:10 ET (14:10 GMT)