Von Stephen Wilmot und Rochelle Toplensky

NEW YORK (Dow Jones)--Politiker streben eine größere Energieunabhängigkeit an. Sie wollen auch die Kohlenstoffemissionen reduzieren. Vor allem aber geht es ihnen um Wählerstimmen. Die widersprüchlichen Prioritäten der politischen Entscheidungsträger haben den verschlungenen Weg zu einer neuen Steuer auf Öl- und Gasgewinne in Großbritannien geprägt. Das Land kündigte sie nach langem Gerangel und vielen undichten Stellen jetzt endlich an. Die "Energiegewinnabgabe" erhöht den bestehenden Steuersatz von 40 Prozent auf die lokalen Gewinne der Branche um weitere 25 Prozent. Premierminister Boris Johnson geht davon aus, dass sie in den ersten zwölf Monaten etwa 5 Milliarden Pfund - oder rund 5,87 Milliarden Euro - einbringen wird.

Shell und BP, die beide ihren Sitz auf der Insel haben und auch in den Gewässern um Schottland tätig sind, standen im Mittelpunkt der Steuerdebatte. Beide haben in den vergangenen Wochen spezielle Investitionspläne für Großbritannien vorgelegt, um die Öffentlichkeit nach guten Finanzergebnissen zu beruhigen. Doch sowohl Shell als auch BP sind weit diversifiziert, was die Auswirkungen der Abgabe auf die Investoren abschwächt. Nach Angaben von Factset erwirtschaftete Shell im vergangenen Jahr nur 8,4 Prozent seines Umsatzes in Großbritannien und BP 7,1 Prozent. Exxon Mobil lag bei 5,3 Prozent, verkaufte aber im vergangenen Jahr einen Teil seiner britischen Vermögenswerte, so dass dieser Anteil sinken wird. Total Energies wird nach Schätzungen der Bank of America der am stärksten betroffene Ölriese sein. Die Anleger hatten die Steuer - eine von der oppositionellen Labour-Partei viel gepriesene Politik - bereits einkalkuliert, und die Aktien legten zuletzt in der gesamten Branche zu.


   Johnson steht unter Zugzwang 

Die Abgabe wurde als Finanzierungskomponente eines 15 Milliarden Pfund schweren Maßnahmenpakets dargestellt, mit dem der durch die steigenden Energiekosten in Großbritannien verursachte Druck auf die Haushaltseinkommen ausgeglichen werden soll. Derweil geriet die britische Regierung heftig in die Kritik, nachdem eine frühere Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik im März nicht viel zur Lösung des Problems beigetragen hatte. Johnson ist ebenfalls bestrebt, Maßnahmen zu ergreifen, nachdem in dieser Woche ein Bericht über Verstöße gegen die Lockdown-Vorschriften in seinem Haus und Büro in der Downing Street 10 veröffentlicht wurde.

Der Schritt ist eine Erinnerung daran, dass die Energiepolitik leicht von der Politik vereinnahmt werden kann, was zu widersprüchlichen Ergebnissen und einem chaotischen Betriebsumfeld für Unternehmen führt. Erst im vergangenen Monat erklärte die Downing Street, sie wolle den Energiefeldern in der Nordsee im Rahmen einer neuen Energiesicherheitsstrategie "neues Leben einhauchen". Diese sollte sich auch auf erneuerbare Ressourcen wie Offshore-Windkraft konzentrieren. Die Regierung versuchte, den Öl- und Gasunternehmen weiterhin Anreize für Investitionen zu geben, auch in erneuerbare Energien. Zu diesem Zweck baute sie in die neue Abgabe eine 80-prozentige "Investitionszulage" ein, ähnlich einer Steuergutschrift. BP kündigte an, seinen Investitionsplan für Großbritannien in Höhe von 18 Milliarden Pfund zu überprüfen.


Britische Steuer läuft im Jahr 2025 automatisch aus 

Die Abgabe wurde weithin, aber irreführend, als "Mitnahme-Steuer" bezeichnet. Wirtschaftswissenschaftler sehen in einer echten "Mitnahme-Steuer, die als einmalige Gewinnkürzung verstanden wird, eine theoretisch effiziente Möglichkeit für Regierungen, Geld zu beschaffen, da sie die Anreize für die Zukunft nicht beeinträchtigen sollte. Wie BP jedoch betonte, ist die neue britische Steuer ein mehrjähriges Programm. Die Regierung erklärte, sie werde die Steuer auslaufen lassen, "wenn die Öl- und Gaspreise wieder auf ein historisch normaleres Niveau zurückkehren", obwohl sie Ende 2025 automatisch ausläuft.

Damit wird die mit der Energiewende verbundene Ungewissheit noch vergrößert. Ein besserer, langfristiger Ansatz für unerwartete Gewinne, wie er von vielen Ländern verfolgt wird, wären höhere Steuersätze, die bei stärkeren Öl- und Gaspreisen automatisch in Kraft treten. Die europäischen Ölkonzerne werden seit langem mit einem Abschlag gegenüber ihren amerikanischen Konkurrenten gehandelt, und dieser Abschlag hat sich in diesem Jahr noch vergrößert. Der Grund: Aktien von Exxon Mobil und Chevron legten eine überdurchschnittliche Kursentwicklung hin. Es gibt noch andere Gründe für die Kluft, wie zum Beispiel unterschiedliche Aktionärsstrukturen und unterschiedliche Ansätze für die Energiewende, aber die inkohärente Politik in London wird nicht dazu beitragen, sie zu verringern.

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May 30, 2022 03:14 ET (07:14 GMT)