Es ist Mittwoch, 3. Januar 2018. 'Burglind' soll uns heute erwarten, ein mit der violetten und damit höchsten Unwetterwarnstufe klassifiziertes Sturmtief, das nur kurzfristig angekündigt werden kann. 'Das wird schon ohne größere Schwierigkeiten vorbeizeihen!', mag man denken. Außerdem ist die Netzleitstelle vorsorglich stärker besetzt als sonst. Aber was es dieses Mal für uns als Netzbetreiber bedeuten wird, haben selbst die Erfahrensten hier noch kaum erlebt…

Ich komme erholt aus dem Weihnachtsurlaub zurück und habe meinen ersten Arbeitstag im neuen Jahr. Dass es derart turbulent beginnen würde - damit rechnet am frühen Morgen dieses Mittwochs wohl niemand.
Die Wettervorhersagen bestätigen sich und es stürmt ordentlich, als ich meine Arbeiten am Schreibtisch angehe.

Ganz nebenbei erfahre ich gegen 11 Uhr, dass der Leiter des Bereichs Netzbetrieb in der Netzleitstelle ist. 'Es ist wohl High Life dort', sagt man mir. Das klingt spannend und ich beschließe, mir einen Eindruck zu verschaffen. Also gehe ich ins Nachbargebäude, in dem die Netzleitstelle ist. Dort angekommen, wimmelt es von Technikern und die Anspannung ist deutlich zu spüren. Schnell wird mir klar: Es handelt sich um eine außergewöhnlich ernste Situation!

Schon seit dem Morgen herrscht der Ausnahmezustand. Wo sonst nur ein paar Dutzend Meldungen pro Tag erscheinen, prasseln jetzt im Sekundentakt Nachrichten von Störungen auf den großen Bildschirmen der Kollegen ein. Begleitet von Tonsignalen werden die ausgefallenen Trafostationen und Leitungen aufgelistet, die dem gewaltigen Sturm 'Burglind' mit seinen orkanartigen Böen zum Opfer fallen. Ein Ausschnitt der Meldungsliste sieht dann so aus:

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Dabei bedeutet zum Beispiel die markierte Meldung, dass um 8:20:56 Uhr im Netzgebiet Neustadt ('NEU') eine der beiden wichtigen Versorgungsleitungen zwischen der Schaltstation Lenzkirch ('S-LENZKIRCH') und der Schaltstation Saig ('S-SAIG') abgeschaltet worden ist ('LS AUS').

Dies geschieht durch einen Leistungsschalter, vergleichbar mit einer sehr großen Sicherung. Die '20' in der Liste zeigt an, dass es sich um eine Leitung in der Mittelspannungsebene mit der Nennspannung 20.000 Volt handelt.

Weil wir in der Energietechnik fast nur mit sehr hohen Spannungen arbeiten, wird in diesem Fall von 20 Kilovolt, kurz 20 kV, gesprochen. Aber was genau hat es mit den Spannungen in der Stromversorgung auf sich? Dazu ist ein bisschen Hintergrundinformation hilfreich (siehe Abschnitt ganz unten).

Für unser Störungsgeschehen genügt es jetzt zu wissen, dass Mittelspannungsnetze mit 20 kV und untergeordnete Niederspannungsnetze mit den haushaltsüblichen 400/230 V betroffen sind. Damit man nicht so lange suchen muss, habe ich die betroffene Leitung mal auf dem 20 kV-Netzbild der Leitstelle markiert:

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Wie kommt es nun zu einer solchen Abschaltung? Grund ist meistens ein Kurzschluss auf der Freileitung - das passiert beispielsweise, wenn Bäume in die Leitung fallen. Obwohl unsere Freileitungstrassen nach gesetzlicher Pflicht ausgeholzt werden, sind es insbesondere hohe Nadelbäume aus hinteren Reihen, die wegen ihrer flachen Wurzeln und durch den aufgeweichten Boden von den heftigen Böen entwurzelt werden.
Aber dieser Ausfall ist nur ein kleines Puzzleteil, was zusammen mit vielen ähnlichen Störungen zu den weitreichenden Auswirkungen geführt hat.

Diese bekommen unsere Kunden zu spüren und rufen an - um sich zu erkundigen oder Störungen mitzuteilen. Dafür ist ein zusätzlicher Kollege im Einsatz, um die Flut von Telefonaten entgegenzunehmen: Stromausfall, verbogene Dachständer, umgestürzte Masten - alles wird notiert und dient als Grundlage für eine Übersicht der Störungen im Niederspannungsnetz, also die bekannten 400/230 V. Auf diese Rückmeldung aus dem Netz sind die Kollegen angewiesen, denn für Störungen im Niederspannungsnetz sind die Techniker in der Netzleitstelle 'blind'. Sie sehen auf den Bildschirmen nur die Störungen in der Mittelspannungsebene und höher.

Neben der Hotline informieren wir über verschiedene Kanäle wie unsere Internetseiten, Twitter und Pressemitteilungen die Bevölkerung über den Stand der Dinge. Angesichts des erheblichen Störungsausmaßes werden alle Hebel in Bewegung gesetzt, damit die Situation unter Kontrolle bleibt.

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Um der Lage Herr zu werden, müssen viele Kollegen aus dem Urlaub geholt werden. Dank des Betriebsfunks ist die Kommunikation untereinander kein Problem, denn auch manche Mobilfunkstationen sind mittlerweile ausgefallen. Die 40 ED-Netze-Monteure und weitere 15 Techniker externer Firmen arbeiten zusammen mit der Netzleitstelle unter Hochdruck daran, so schnell wie möglich die Versorgung wiederherzustellen.

Gegen 18 Uhr stellt sich leider heraus, dass nicht alle Trafostationen in der Nacht auf Donnerstag versorgt werden können. Bei solch widrigen Umständen mit Sturm und starkem Regen oder sogar Schnee ist die Arbeit auf einer Freileitung noch gefährlicher als ohnehin schon - ganz zu schweigen von der hereinbrechenden Dunkelheit. Aus Sicherheitsgründen erfolgt die Anweisung an die Monteure draußen, nur noch die absehbaren Arbeiten abzuschließen. Telefonisch versuchen wir die Bürgermeister der betroffenen Gemeinden zu informieren.

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Um den Ungewissheiten der Nacht zu begegnen, wird eine umfangreiche Belegschaft auf der Netzleitstelle bereitgehalten. Weil die Fernwirkverbindung zum Umspannwerk Neustadt gestört ist und die Leitstelle demnach weder Meldungen bekommt noch im Ernstfall eingreifen könnte, muss ein Kollege über Nacht dort vor Ort bleiben. Auch wenn die höchste Sturm-Warnstufe aufgehoben worden ist, besteht noch kein Grund zur Entwarnung: viele Bäume sind durch Sturmtief 'Burglind' geschädigt und drohen bei erneuten Böen umzufallen. Der Notfallstab beschließt, früh am kommenden Morgen wieder zusammenzutreffen, um das weitere Vorgehen zu planen.

Am Donnerstagmorgen können wir glücklicherweise ein positives Fazit aus netztechnischer Sicht ziehen: Es haben sich keine weiteren Störungen ereignet. Jetzt geht die Wiederversorgung auf Hochtouren weiter. Bei manchen Leitungen ist die Fehlerstelle noch gar nicht gefunden worden - zu viel hat sich am vergangenen Tag ereignet, als dass schon alles bekannt wäre. Viel Arbeit wartet auf die Monteure, denn die Freileitungen müssen kontrolliert werden. Oft verlaufen sie durch unwegsames Gelände und sind nur mit entsprechenden Fahrzeugen oder zu Fuß erreichbar.

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Bald können bis auf wenige Ausnahmen alle Trafostationen wieder versorgt werden, das Mittelspannungsnetz steht wieder. Allerdings nur vorläufig, weil viele Leitungen noch nicht betriebsbereit sind. Man sagt, das Netz ist noch nicht wieder 'n-minus-eins'-sicher.

Das so genannte (n-1)-Kriterium bedeutet, dass auch bei einem Einfachausfall eines Netzbetriebsmittels (z.B. eines Transformators oder einer Leitung) das Netz stabil bleibt, da redundante (zusätzliche) Betriebsmittel die Last übernehmen. Weil teilweise mehrere dieser redundant ausgeführten Versorgungsleitungen betroffen sind, geht auch die Wiederversorgung so ungewöhnlich lange.

Im Laufe des Donnerstags bewegt sich der Fokus auf die Niederspannungsebene. Am Nachmittag werden zusätzliche Reparaturtrupps, die ihre Arbeiten in weniger betroffenen Netzgebieten erledigt haben, ins Krisengebiet geholt. Sie unterstützen die Arbeiten an der Niederspannung. Bevor nicht jeder Haushalt wieder Strom hat, ruhen die Arbeiten an der Mittelspannung. Bis alle Schäden behoben sind, wird es noch viele Wochen in Anspruch nehmen. Viele Freileitungen sind beschädigt, auf manchen Strecken sogar ganz zerstört.

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Erschwerend bei den Arbeiten kommt nun der starke Regen hinzu. St. Blasien erlebt eine Jahrhundertflut, auch Lenzkirch ist betroffen. Im Laufe des Freitags sind dank eines super Teams alle Kunden wieder versorgt. Langsam kann vom Krisenmodus in die Planung der umfangreichen Reparaturen gegangen werden, um das Netz wieder vollständig aufzubauen.

Im Vergleich zum Orkan Lothar vom Dezember 1999, der vor allem punktuell sehr heftig ausfiel, bringt Burglind die Kollegen an vielen Fronten gleichzeitig außer Atem. Diese Tage und Nächte werden allen betroffenen Kunden und unseren beteiligten Kollegen sicher lange noch in Erinnerung bleiben - und mögen nicht allzu schnell wieder wachgerüttelt werden…

Hintergrundinfo:

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Unser Stromnetz in Deutschland und Europa ist in mehrere Spannungsebenen gegliedert, die verschiedene Aufgaben übernehmen. Das ist in der Abbildung ganz gut zu erkennen. Je höher die Nennspannung eines Netzes ist, desto mehr Leistung können seine Leitungen übertragen. Im Wesentlichen wird unterschieden nach Übertragungsnetzen und Verteilnetzen. Die Übertragungsnetze haben mit 220 oder 380 kV die höchsten Nennspannungen, nehmen die Energie der Großkraftwerke auf und transportieren sie über weite Strecken. Diese Höchstspannungsnetze sind bei einem Großteil der europäischen Länder untereinander verbunden und dienen dem Stromaustausch und -handel.

Bei den Verteilnetzen treffen wir die Hochspannungsebene mit 110 kV, Mittelspannungsnetze mit meist 10 oder 20 kV und schließlich die Niederspannungsebene mit 400 V an. Diese Netze wiederum verteilen die elektrische Energie in der Fläche und bringen sie zu den Kundenanschlüssen. Das geht auch in umgekehrter Richtung, wenn Erneuerbare-Energien-Anlagen einspeisen. Um die Spannungsebenen untereinander zu verbinden, werden zum Teil riesige Transformatoren eingesetzt, die wir manchmal in Umspannwerken brummen hören. Die ED Netze GmbH ist einer der mehreren hundert Verteilnetzbetreiber in Deutschland, zu denen z. B. auch Stadtwerke gehören; sie sorgen für Bau und Betrieb des Verteilnetzes. In Baden-Württemberg ist ED Netze der zweitgrößte Verteilnetzbetreiber.

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Energiedienst Holding AG veröffentlichte diesen Inhalt am 16 Januar 2018 und ist allein verantwortlich für die darin enthaltenen Informationen.
Unverändert und nicht überarbeitet weiter verbreitet am 16 Januar 2018 10:35:12 UTC.

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