Berlin (Reuters) - Weniger Kohlestrom und die Wirtschaftsflaute haben den deutschen Treibhausgas-Ausstoß einer Studie zufolge auf den niedrigsten Stand seit 70 Jahren gedrückt.

2023 seien die Emissionen nach vorläufigen Berechnungen um fast zehn Prozent gegenüber dem Vorjahr zurückgegangen und hätte noch 673 Millionen Tonnen Kohlendioxid (CO2) betragen, teilte die Denkfabrik Agora Energiewende am Donnerstag mit. Die im Klimaschutzgesetz verankerte Jahresvorgabe von höchstens 722 Millionen Tonnen CO2 wurde damit deutlich unterschritten. Dennoch warnte Agora: Nur 15 Prozent der Minderungen seien etwa durch mehr Wind- und Solarkraft langfristig abgesichert. Verkehr- und Gebäudesektor hätte ihre Ziele zum wiederholten Mal verfehlt. Ohne neue Instrumente werde das völkerrechtlich vereinbarte Ziel für 2030 gerissen, was auch die Regierung eingeräumt hat.

Deutschland hat im Vergleich zu 1990 den Zahlen zufolge nun 46 Prozent weniger CO2 in die Luft geblasen. Bis 2030 müssen es 65 Prozent sein. Kerninstrument dafür soll ein Umbau der Energieversorgung hin zu erneuerbaren Energien sein. Dabei kommt Deutschland jetzt schneller als zuletzt voran: 2023 wurde laut Agora erstmals mehr als die Hälfte des Stromverbrauchs von Wind-, Solar- oder Wasserkraft gedeckt. Entsprechend liefen vor allem weniger Braunkohlekraftwerke. "Die Energiewirtschaft verzeichnete mit dem historischen Hoch bei den Erneuerbaren Energien einen klimapolitischen Erfolg, der uns näher zum 2030-Ziel bringt", sagte Simon Müller, Direktor Agora Energiewende Deutschland. Der Rückgang der Industrie-Emissionen sei jedoch nicht nachhaltig: "Der krisenbedingte Produktionseinbruch schwächt den Industriestandort Deutschland." Wenn die Konjunktur auf Basis von Kohle und Gas wieder anziehe, würden es auch die Emissionen tun.

SOLAR-BOOM UND ERNEUERBAREN-ZUBAU IN EUROPA VERDRÄNGT KOHLE

Dabei half allerdings neben einem Boom beim Neubau von Solaranlagen auch der um fast vier Prozent geringere Stromverbrauch in Deutschland. Zudem importierte Deutschland im vergangenen Jahr mehr Strom aus dem Ausland als es exportierte. Ein Grund dafür war, dass die französischen Atomkraftwerke 2023 wieder mehr produzierten als 2022, als zahlreiche Meiler wegen Reparaturen vom Netz genommen wurden. Zudem legten europäische Nachbarstaaten beim Ausbau der Erneuerbaren kräftig zu. Damit stieg das Angebot von günstigem Strom in Europa, was wiederum die teureren Kohlekraftwerke aus dem Markt drängte. In zurückliegenden Jahren hatte Deutschland umgekehrt immer mehr Strom exportiert als importiert.

Neben dem geringeren Ausstoß im Energiesektor machte sich vor allem die schwache Wirtschaft bemerkbar: Die Industrie stieß zwölf Prozent weniger CO2 aus lag damit auf dem tiefsten Stand seit Erfassung ihrer Daten im Jahr 1990. Die nach wie vor hohen Preise für fossile Energien machten es für die Industrie besonders schwer. Eine Verlagerung von Industrien ins Ausland helfe dem Klima nicht. "Um im Standortwettbewerb auf dem Weg zur Klimaneutralität erfolgreich bestehen zu können, brauchen Unternehmen in Deutschland dringend Finanzierungs- und Planungssicherheit für den Umstieg von fossilen Energien auf strombasierte Prozesse", sagte Agora-Chef Müller.

Kaum Bewegung gebe es weiter bei den problematischen Sektoren Verkehr und Gebäude, die ihre gesetzlich verankerten Jahresziele erneut rissen. So müssten eigentlich 80 Prozent der PKW-Neuzulassungen elektrisch sein, es seien aber zuletzt nur 20 Prozent gewesen, sagte Müller. Zwar habe es ein Rekordjahr für neue Heizungen und Wärmpumpen gegeben. Allerdings seien 2,5-mal soviele Öl- oder Gasheizungen neu eingebaut worden als klimaneutrale Geräte wie Wärmepumpen.

Deutschland ist bereits wegen des Verstoßes der Sektoren gegen das Klimaschutzgesetz verurteilt worden. Die Regierung will dagegen Berufung einlegen und zugleich das Klimaschutzgesetz ändern. Dann sollen die strikten Vorgaben für einzelne Sektoren weitgehend entfallen und das Gesamtziel im Mittelpunkt stehen.

(Bericht von Markus Wacket, Holger Hansen; Redigiert von Hans Busemann; Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com (für Politik und Konjunktur) oder frankfurt.newsroom@thomsonreuters.com (für Unternehmen und Märkte).)