Berlin (Reuters) - Die Steuerquellen von Bund, Ländern und Kommunen könnten weitaus stärker sprudeln als noch im vorigen Jahr erwartet und bis 2026 zusätzliche 220 Milliarden Euro in deren Kassen spülen.

Zu diesem Ergebnis kam der Arbeitskreis Steuerschätzung am Donnerstag in seinen halbjährlichen Berechnungen. Finanzminister Christian Lindner (FDP) dämpfte aber neue Begehrlichkeiten. Die geplanten steuerlichen Entlastungen etwa zur Abmilderung der gestiegenen Energiekosten seien noch nicht berücksichtigt. Diese beliefen sich allein 2022 für den Bund auf etwa 17 Milliarden Euro: "Unter Berücksichtigung der Steuerrechtsänderungen haben wir also einen Verteilungsspielraum von nahezu Null zusätzlich." Oppositionspolitiker forderten, der Staat müsse Mehreinnahmen aufgrund der hohen Inflation an die Bürger zurückgeben.

Allein der Bund kann von 2022 bis 2026 laut Steuerschätzung mit 93,4 Milliarden Euro mehr kalkulieren als noch im November 2021 angenommen. Zusammen können Bund, Länder und Kommunen bis 2026 Mehreinnahmen von 220,4 Milliarden Euro erwarten. Für 2022 beträgt das Plus gegenüber der letzten Schätzung vom November für den Bund 16,9 Milliarden Euro.

LINDNER: EINHALTUNG DER SCHULDENBREMSE BEDEUTET ARBEIT

Im Herbst will Lindner einen Vorschlag machen, wie die kalte Progression abgemildert werden kann. Damit wird eine höhere Steuerbelastung bezeichnet etwa für Arbeitnehmer, die aufgrund von Lohnerhöhungen in einen höheren Steuertarif rutschen, unter dem Strich durch die Inflation aber gar nicht mehr Kaufkraft zur Verfügung haben. Auch dafür würden Reserven benötigt, unterstrich der FDP-Politiker. Es gebe somit auch in den folgenden Jahren keinen Spielraum, "der die Kreativität wecken kann". Die Zahlen machten es angesichts der wirtschaftlichen Risiken nicht unbedingt leichter, die Schuldenbremse ab 2023 wieder einzuhalten. Das werde "nicht zu einem Selbstläufer, das erfordert Arbeit".

Die erwarteten Mehreinnahmen im Vergleich zur November-Schätzung begründete Lindner damit, dass sich das makroökonomische Umfeld besser als erwartet entwickelt habe. 2021 habe es auch sehr hohe Gewinne bei Unternehmen gegeben. Auch sei das erste Quartal gut gelaufen. Angesichts des Ukraine-Krieges falle die Schätzung aber in eine Zeit der Unsicherheit.

Union und Linke forderten Entlastungen. "Der Staat ist der große Profiteur der Inflation", erklärte CDU-Haushälter Christian Haase. "Die Kaufkraftverluste müssen ausgeglichen werden." Linken-Finanzpolitiker Christian Görke forderte, die Ampel-Koalition müsse ihre Entlastungspakete angesichts gestiegener Preise aufstocken: "Die Energiepreispauschale sollte auf 1000 Euro erhöht und auch an Rentner, Minijobber und Studenten ausgezahlt werden." Die Koalition plant eine Energiepreispauschale von 300 Euro, die noch am Donnerstag vom Bundestag beschlossen werden sollte. Der Außenhandelsverband BGA forderte eine dauerhafte Entlastung für Unternehmen und Verbraucher bei den Energiekosten.

Vertreter der Koalitionsfraktionen setzten unterschiedliche Akzente. FDP-Vizefraktionschef Christoph Meyer erklärte, der Staat habe kein Einnahmeproblem. Belastungen für die Bürger müssten weiter reduziert werden. Grünen-Haushälter Sven-Christian Kindler erklärte, die Steuerschätzung sei "kein Anlass für Diskussionen über Steuersenkungen".

Wissenschaftler warnten vor neuen Ausgabenprogrammen. "Sinnvoll wäre zum gegenwärtigen Zeitpunkt, mit dem voraussichtlichen Plus die geplante Verschuldung zu reduzieren oder es in die Rücklage zu geben", erklärte der Steuerexperte Jens Boysen-Hogrefe vom IfW in Kiel, der dem Arbeitskreis selbst angehört. Friedrich Heinemann vom ZEW Mannheim erklärte: "Die inflationäre Aufblähung von Konsumausgaben, Löhnen und Unternehmensgewinnen schlägt sich in einem sehr kräftigen Anstieg der Steuereinnahmen nieder." Aber auch bei den Schulden profitiere der Staat von der Inflation, weil der reale Wert der Staatsverschuldung "mit großer Geschwindigkeit weginflationiert wird".