Kairo/Jerusalem (Reuters) - Ungeachtet internationaler Bemühungen um eine Waffenruhe und Mahnungen zur Zurückhaltung treibt Israel seine Militäroffensive im Gazastreifen weiter voran.

Das Militär teilte am Dienstag mit, dass seine Soldaten bei Kämpfen im Zentrum und im Süden binnen 24 Stunden Dutzende bewaffnete Palästinenser getötet hätten - allein 30 davon in Chan Junis. Nach Angaben von Bewohnern rückten israelische Panzer dort aus westlicher und östlicher Richtung weiter vor. Im unweit entfernten Rafah sei zudem der östliche Sektor übernacht beschossen worden. Die allgemein erwartete Bodenoffensive habe in der Stadt an der Grenze zu Ägypten aber offenbar noch nicht begonnen.

Rafah ist zunehmend in den Fokus der israelischen Militäroffensive gegen die radikalislamische Hamas gerückt. Israels Militär hatte nach Beginn des Kriegs, als sich die Offensive zunächst auf den Norden konzentrierte, die Bevölkerung angewiesen, sich Richtung Süden in Sicherheit zu begeben. Längst sind die Soldaten aber auch dorthin vorgestoßen. Rund die Hälfte der 2,3 Millionen Gaza-Bewohner drängen sich daher inzwischen am südlichen Rand des Gazastreifens in und um Rafah, nachdem andere Gegenden des Küstengebiets durch das monatelange Dauerbombardement zu großen Teilen zerstört wurden. Nun will Israel aber auch Hamas-Kämpfern in Rafah nachsetzen. Die Zivilbevölkerung soll dazu evakuiert werden, doch es ist unklar, wie das umgesetzt werden soll und wo die Menschen noch hin sollen. Ägypten betont, dass es keinen Flüchtlings-Exodus über die Grenze erlauben wird.

Außenministerin Annalena Baerbock rief Israel zur Zurückhaltung bei militärischen Angriffen auf Rafah auf. Jedes Land habe das Recht, "sich gegen Terrorismus zu verteidigen, aber das beinhaltet keine Vertreibung", sagte sie nach einem Treffen mit dem Außenminister der Palästinensischen Autonomiebehörde, Riad Maliki, in Berlin. Es sei die Verantwortung der israelischen Armee, für die Palästinenser, die in Rafah Schutz gesucht haben, sichere Korridore zu schaffen. Maliki forderte, eine Offensive gegen Rafah zu verhindern. Sollte dies nicht gelingen, müssten in einem zweiten Schritt sichere Korridore eingerichtet werden, "sodass (die Menschen) in den Norden Gazas zurückkehren können".

In Genf unterstrich eine Sprecherin des Palästinenserhilfswerks der Vereinten Nationen (UNRWA) allerdings, dass es im gesamten Gazastreifen keinen sicheren Ort mehr gebe. Der Norden sei so gut wie unbewohnbar geworden. "Genug ist genug. Jede weitere Eskalation wäre absolut apokalyptisch."

"LETZTE GEBETE"

Unter den Menschen in Rafah machte sich unterdessen immer mehr Verzweiflung breit. "Wir lesen jede Nacht unsere letzten Gebete", teilte die 30-jährige Aja der Nachrichtenagentur Reuters über eine Chat-App mit. Sie harrt mit ihrer Mutter, ihrer Großmutter und fünf Geschwistern in einem Zelt aus. "Jede Nacht verabschieden wir uns voneinander und von unseren Verwandten außerhalb Rafahs. Sofern die Welt nicht etwas Gnade zeigt und Israel davon abhält, Rafah zu überfallen, glauben wir nicht, dass wir überleben werden."

Nach Angaben der Gaza-Behörden sind seit Beginn des Kriegs inzwischen mehr als 28.400 Palästinenser getötet worden. Auslöser war ein Massaker von Hamas-Kämpfern im Süden Israels am 7. Oktober, bei dem 1200 Menschen getötet und mehr als 250 Geiseln genommen wurden. Während einer kurzen Feuerpause Ende November hatte die Hamas einige der Geiseln im Austausch gegen palästinensische Gefängnisinsassen freigelassen. Auf eine weitere Waffenruhe konnten sich die Kriegsparteien bislang jedoch nicht mehr einigen.

US-Präsident Joe Biden teilte am Montag nach einem Gespräch mit dem jordanischen König Abdullah in Washington mit, die USA arbeiteten mit Verbündeten in der Region an einer Vereinbarung zur Unterbrechung der Kämpfe. Das solle die Befreiung der Geiseln im Gazastreifen und die Ausweitung der humanitären Hilfe ermöglichen. Die Vereinbarung solle mit einer mindestens sechswöchigen Kampfpause beginnen. In dieser könne man sich dann die Zeit nehmen, "etwas Dauerhafteres aufzubauen".

Noch am Dienstag sollten in Kairo ranghohe Vertreter aus den USA, Ägypten, Katar und Israel zusammenkommen, wie von Insidern zu erfahren war. Es gehe um die Arbeit an einem dreistufigen Rahmenwerk zur Freilassung von Geiseln und einer Feuerpause. Weitere Details wurden zunächst nicht bekannt.

(Bericht von Nidal al-Mughrabi, Dan Williams; Mitarbeit: Andreas Rinke; geschrieben von Christian Rüttger; redigiert von; Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com (für Politik und Konjunktur) oder frankfurt.newsroom@thomsonreuters.com (für Unternehmen und Märkte).)