Berlin (Reuters) - Wahlen für das Abgeordnetenhaus in Berlin gelten wegen ihres begrenzten Aussagewertes für den Rest von Deutschland und der relativ geringen Zahl von 2,4 Millionen Wählerinnen und Wählern normalerweise nicht als Top-Ereignis der deutschen Politik.

Doch am 12. Februar ist alles anders: Dann wird die Welt mit Neugier auf Berlin schauen. Ausgerechnet in der deutschen Hauptstadt muss die Landtagswahl vom 26. September 2021 wegen gravierender Mängel wiederholt werden. "Schon jetzt haben die Fehler im Wahlmanagement die ansonsten hohe Integrität der Wahlen in Berlin und damit möglicherweise in ganz Deutschland beeinträchtigt", erklärt Daniel Hellmann vom American Institute for Contemporary German Studies internationalen Lesern die Bedeutung des Vorgangs. "Daher ist es von entscheidender Bedeutung, dass die Wiederholung der Berliner Wahlen möglichst reibungslos abläuft."

Der Landeswahlleiter und die Stadt haben nicht ohne Grund auch Beobachter des Europarates und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) eingeladen. Es gehe darum, Vertrauen in die Demokratie zurückzugewinnen, hatte Landeswahlleiter Stephan Bröchler dies begründet. Ganz einfach ist das nicht: Zumindest hat das Bundesverfassungsgericht Eilklagen gegen die Wiederholung abgewiesen. Aber erste - allerdings kleine - neue Unregelmäßigkeiten wurden bereits gemeldet. Mal wurden Briefwahlunterlagen doppelt verschickt, mal fehlte ein Dienstsiegel auf Unterlagen. Dazu kommt ausgerechnet in der heißen Phase ein Poststreik hinzu. Die Landeswahlleitung versichert auf Anfrage, dass die Post Notfallkonzepte entwickelt habe. Dadurch sei sichergestellt, dass alle Wahlbriefe am Wahlsonntag bis 16 Uhr den Bezirkswahlämtern zugestellt würden.

Zumindest an Personal soll es diesmal nicht mangeln: 43.000 Wahlhelfer werden am 12. Februar eingesetzt - deutlich mehr als im September 2021. Das soll etwa mehr Wahlkabinen ermöglichen und Staus vermeiden. Dafür hat die Stadt die Aufwandsentschädigung, die offiziell "Erfrischungsgeld" heißt, drastisch erhöht auf nun steuerfreie 240 Euro. Das macht die Wahl mit Kosten von 36 Millionen Euro zur teuersten in der Stadtgeschichte.

UNKLARE KOALITIONSOPTIONEN - CDU VORNE

Angesichts der widrigen Umstände rückte die Frage nach den künftigen Mehrheiten in der Stadt lange in den Hintergrund. Aber nach den beiden jüngsten Umfragen liegt die CDU nun mit 24 bis 25 Prozent deutlich an der Spitze. Danach folgt die SPD mit der Regierenden Bürgermeisterin Franziska Giffey mit 21 Prozent, während die Grünen auf 18 Prozent abrutschen. Die Linken liegen stabil bei elf, die AfD bei zehn und die FDP bei sechs Prozent.

Das enge Rennen erklärt die Nervosität auf allen Seiten. Innerhalb der rot-grün-roten Landesregierung etwa gehen vor allem Giffey und die Grünen-Spitzenkandidatin Bettina Jarasch aufeinander los. Es wird über Enteignungen im Wohnungsbau oder die Sperrung der zentralen Friedrichstrasse gestritten - und Giffey betont, dass die Differenzen innerhalb des Bündnisses von SPD, Grünen und Linken vor allem in der Verkehrs- und Wohnungsbaupolitik sehr groß seien.

Zwar wird parteiübergreifend angenommen, dass die oppositionelle CDU mit ihrem Spitzenkandidaten Kai Wegner schon wegen des Unmuts über die Wiederholungswahl stärkste Kraft wird: Aber bei den Koalitionsoptionen sieht es für sie schwierig aus, weil es sowohl an der SPD- als auch der Grünen-Basis in den eher linken Landesverbänden eine klare Abneigung gegen ein Bündnis mit der CDU gibt - und die Union nach Silvester eine umstrittene Migrationsdebatte angestoßen hatte.

Möglich wäre deshalb eine Fortsetzung der rot-grün-roten Koalition, vielleicht mit vertauschten Rollen. Giffey liebäugelt auch mit einem Ampel-Bündnis aus SPD, Grünen und FDP. Allerdings wollen die Liberalen lieber mit der Union regieren. "Auch ein Deutschland-Bündnis aus SPD, CDU und FDP ist vielleicht möglich", meint der Berliner Politologe Gero Neugebauer deshalb.

Die große Unbekannte aber ist die Zahl der Wählerinnen und Wähler. Niemand rechnet damit, dass die Wahlbeteiligung von 2021 mit 75,4 Prozent wieder erreicht wird - zumal damals die Wahl mit der Bundestagswahl zusammenfiel. Damals hatten etwa 1,84 Millionen Menschen gewählt, 46,8 Prozent davon übrigens per Briefwahl. Mittlerweile gehen Parteistrategen von einer möglichen Wahlbeteiligung von nur 50 bis 55 Prozent aus. "Es ist also alles entscheidend, wer seine Anhänger mobilisieren kann", heißt es in den Parteien übereinstimmend.

Möglicherweise sei die Wahl trotz der hitzigen Auseinandersetzung schon vorentschieden, mutmaßt man in der CDU. Denn mitten in der Hochzeit des Wahlkampfs hatten am 30. Januar auch noch Ferien in Berlin begonnen. Bis zum 2. Februar wurden nach Angaben des Landeswahlleiters für 26,4 Prozent der Wähler die für die Briefwahl nötigen Wahlscheine ausgestellt - das sind 6,6 Prozent weniger als zum Vergleichzeitpunkt 2021.

Die OSZE teilte übrigens mit, am 12. Februar keine Beobachter nach Berlin zu schicken. "Ich hätte eine Wahlbeobachtung durch die OSZE begrüßt. Zugleich freue ich mich über das Vertrauen der OSZE in die Lernfähigkeit der politischen Institutionen Berlins", sagte Landeswahlleiter Bröchler dazu.

(Mitarbeit: Alexander Ratz; redigiert von Hans Seidenstücker; Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com (für Politik und Konjunktur) oder frankfurt.newsroom@thomsonreuters.com (für Unternehmen und Märkte).)

- von Andreas Rinke