Von Jon Sindreu

MOSKAU (Dow Jones)--Wer seine Schulden nicht bezahlt, hat es schwer, noch einen Kredit zu bekommen. Es sei denn, der Schuldner ist ein Land - selbst wenn es Russland heißt.

Zum ersten Mal seit der bolschewistischen Revolution ist Russland mit seinen Auslandsschulden in Verzug geraten. Dabei wäre Moskau durchaus bereit und in der Lage zu zahlen. Der Verzug ist jedoch die Folge westlicher Sanktionen, die es Banken, Clearingstellen und Anleihegläubigern verbieten, Überweisungen aus Russland zu bearbeiten oder diese entgegenzunehmen. Dies wird einen jahrelangen Rechtsstreit nach sich ziehen, der weitaus komplexer sein wird als frühere Zahlungsausfälle von Staaten.

Zwar hatten die USA Moskau zuvor die Aufnahme zusätzlicher Finanzmittel in US-Dollar untersagt und das Land aus dem amerikanischen Bankensystem ausgeschlossen, doch ermöglichte eine vorübergehende Ausnahmeregelung die Bedienung der ausstehenden Schulden. Mit dem Auslaufen dieser Regelung im Mai sollte der Druck auf Russland wegen des Überfalls auf die Ukraine erhöht werden. Die Anleger hatten dies bereits eingepreist, denn auf US-Dollar und Euro lautende russische Staatsanleihen sind seit März um etwa 75 Prozent gefallen.

Die Sanktion soll langfristig wirken: Wenn ein Land seine Schulden nicht bezahlt, schadet das seinem Ansehen bei den internationalen Geldgebern. Es kann Jahre dauern, bis die säumigen Länder wieder Mittel in harter Währung aufnehmen können, was wiederum das Wirtschaftswachstum beeinträchtigt. Das ist zumindest die Theorie.

Selbst nach dem Einfrieren der offiziellen Auslandsreserven des Kremls hat der Westen weiterhin Öl und Gas aus Russland bezogen. Laut CEIC-Wirtschaftsdaten hat Russland auch damit von Februar bis Mai einen Leistungsbilanzüberschuss von 90 Milliarden US-Dollar erwirtschaftet. Folglich hält sich der Schaden für die russische Wirtschaft in Grenzen, auch wenn diese im laufenden Jahr noch um 10 Prozent schrumpfen dürfte. In der Zwischenzeit können Russlands eingeschränkte Möglichkeiten, Schulden zu machen, die Finanzen des Landes nur kosmetisch beeinträchtigen: Mit frischen Rubel aus der Notenpresse lässt sich der Finanzbedarf im Inland immer noch decken.


   Die Krise aussitzen 

Natürlich könnten die Exporteinnahmen sinken, wenn westliche Regierungen bereit sind, die Einfuhr russischer Energie zu reduzieren. Auch für Russland soll der Besitz von Devisen dazu dienen, wichtige Güter zu importieren. Dies wird jedoch vom Westen blockiert. Russlands Maßnahmen zur Reduzierung der Gasexporte nach Deutschland und Italien deuten deshalb darauf hin, dass das Land ohnehin schon mehr Dollar und Euro besitzt, als es derzeit verwenden kann.

Was den Ausschluss von den internationalen Märkten betrifft, so hat die Kriegstreiberei des Kremls in den Augen der Anleger sicherlich das Risikoprofil erhöht. Die trotz der geopolitischen Auseinandersetzungen unternommenen Zahlungsbemühungen könnten jedoch darauf hindeuten, dass Russland seine Schulden nach Beendigung der Krise begleichen wird und dass es sich lohnen könnte, die Krise auszusitzen. Immerhin liegt die Auslandsverschuldung des Landes unter 30 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.

Jüngere Erfahrungen zeigen auch, dass die Kapitalströme ein sehr kurzes Gedächtnis haben, wenn die Märkte zum Vorteil der Schwellenländer schwanken. Während Ökonomen in der Vergangenheit feststellen mussten, dass Zahlungsausfälle zu einem jahrelang eingeschränkten Marktzugang führen, deuten neuere Untersuchungen darauf hin, dass diese Art der Bestrafung immer weniger wirkt. Sie könnte bereits bedeutungslos sein: Im Jahr 2017 stürzten sich die Anleger auf eine 100-jährige Anleihe Argentiniens, das 2014 zum achten Mal in seiner Geschichte in Verzug geraten war.

In der Praxis zeigt sich eben, dass die Gerechtigkeit an den Finanzmärkten keinen allzu langen Arm hat, speziell wenn es um Nationen geht.

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June 29, 2022 04:09 ET (08:09 GMT)