Von Pierre Briançon

LONDON (Dow Jones)--Steigende Gaspreise werden sich in Europa wohl bald ausweiten und laut Wirtschaftsanalysten den Aufschwung gefährden. In Großbritannien haben sie bereits Engpässe sowie die damit verbundenen wirtschaftlichen und geschäftlichen Folgen losgetreten. Nicht nur dürften Haushalte bald mit explodierenden Energierechnungen konfrontiert sein, sondern auch manche Unternehmen in Schwierigkeiten geraten bis hin zur Insolvenz.

Als Folge der höheren Gaspreise gefährdet der Mangel an Kohlendioxid auch die Produktion von Lebensmitteln und Fleisch. Das viel geschmähte CO2 wird nämlich auch in der Industrie verwendet, vor allem in kohlensäurehaltigen Getränken oder bei der Schlachtung von Tieren. Und auch in der Kühlung von Kernkraftwerken oder bei einigen chirurgischen Eingriffen spielt es eine Rolle.

Nippon Gases, einer der größten Erdgaslieferanten, erklärte zuletzt, dass seine Lieferungen nach Europa in diesem Jahr wegen des starken Anstiegs der Gas- und CO2-Preise um die Hälfte zurückgegangen sind. In Großbritannien schlossen zwei Düngemittelfabriken und die Fleischindustrie warnt, dass es auch bei Verarbeitungsbetrieben in dieser Woche wegen des CO2-Mangels zu Schließungen kommen könne.


   Gasspeicher sind vor dem Winter relativ leer 

Die Gaskrise hat die Preise seit Jahresbeginn in Europa um 280 Prozent und in den USA um 100 Prozent in die Höhe getrieben. Dafür gibt es mehrere Gründe: kälteres Wetter in ganz Europa im April und Mai, einige Ausfälle von Gasfeldern in Norwegen und Russland sowie eine höhere Nachfrage in Asien, die einen Teil des weltweiten Flüssiggasverkehrs in diese Region umleitete.

Einige europäische Politiker vermuten derweil, dass Russland sich weigert, die Lieferungen nach Europa aufzustocken, nur um zu zeigen, dass seine umstrittene Nord Stream 2-Pipeline trotz aller Widerstände ohne Verzögerungen fertiggestellt werden muss. Infolge der Krise sind die Gasspeicher in Europa vor der Wintersaison nur zu 72 Prozent gefüllt, verglichen mit den üblichen 87 Prozent zu dieser Jahreszeit, wie ING-Ökonom Warren Patterson warnt.

Die Auswirkungen der Krise werden von Land zu Land unterschiedlich ausfallen. Morgan Stanley geht davon aus, dass sie in den USA, wo die meisten Gasverbraucher aus der Industrie kommen, mildere Folgen mit sich bringt. In Europa ist Großbritannien zum Beispiel stärker auf Gas angewiesen als Frankreich mit seinem dichten Netz von Kernkraftwerken. Doch die wirtschaftlichen Folgen werden alle treffen.

Andererseits, in den kommenden Wochen und Monaten könnte ein milder Herbst und Winter dazu beitragen, die Preise wieder auf ein niedrigeres Niveau zu bringen. Außerdem könnten die LNG-Lieferungen nach Europa in den kommenden Monaten zunehmen.


   Inflation könnte zum Dauerthema werden 

Aber wenn dies alles nicht geschieht, wird das Wachstum einen Rückschlag erleiden. Eine höhere Inflation könnte zum Dauerbrenner ausarten, anders als Ökonomen und Zentralbanker jetzt noch erwarten. Und es könnten politische Probleme entstehen, wenn die Haushalte ihre Gasrechnungen erhalten. Die Regierungen werden dazu beitragen müssen, Auswirkungen abzufedern, was die öffentlichen Finanzen weiter belastet, nachdem die öffentlichen Schulden wegen Corona bereits aus dem Ruder liefen. Einige Staaten haben schon damit begonnen, Energierechnungen zu subventionieren oder die von der Krise am stärksten betroffenen Unternehmen zu unterstützen.

Und: Die jetzige Lage entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Europa versucht, mehr CO2 zu produzieren und darauf hofft, dass eine viel kritisierte Pipeline aus Russland mehr Gas an seine Küsten bringt.

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September 23, 2021 05:25 ET (09:25 GMT)