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BRÜSSEL (dpa-AFX) - Streit über das neue Ziel eines klimaneutralen Europa bis 2050 hat am Donnerstag den EU-Gipfel überschattet. Bundeskanzlerin Angela Merkel und die übrigen Staats- und Regierungschefs rangen in Brüssel stundenlang um eine Einigung. Polen, Ungarn und Tschechien erhoben Bedenken und forderten vor einer Festlegung auf das ehrgeizige Klimaziel konkrete Zusagen für Finanzhilfen zum Umbau ihrer Energieversorgung. Zudem pochte Tschechien darauf, Kernkraft als "grünen Strom" anzuerkennen.

Statt die Debatte bis zum frühen Abend abzuschließen, führten die Staats- und Regierungschefs sie auch beim Dinner weiter. "Es gibt immer noch erhebliche Meinungsunterschiede zu überbrücken", sagte ein EU-Diplomat gut fünf Stunden nach Beginn des Gipfels.

Zum Auftakt des Gipfels hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel die Hoffnung geäußert, dass sich alle 28 Staaten hinter das Ziel der Klimaneutralität stellen. "Ich hoffe natürlich, dass das gelingt", sagte Merkel bei ihrer Ankunft. "Das wäre ein starkes Zeichen, dass Europa wirklich der Kontinent ist, der dann 2050 klimaneutral ist."

Deutschland habe sich bereits auf dieses Ziel verpflichtet und unterstütze die Pläne der EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen für einen "Green Deal", fügte die Kanzlerin hinzu. Nun gehe es darum, ob alle EU-Länder dies mittragen. Auch der neue Ratspräsident Charles Michel sagte: "Ich hoffe, wir können uns einigen."

In Vorverhandlungen war dies jedoch nicht gelungen. Die drei Länder machen geltend, dass die Energiewende für sie besonders schwierig und teuer ist. Polen zum Beispiel bezieht 77 Prozent seines Stroms aus Kohle. Ministerpräsident Mateusz Morawiecki sagte, beim Erreichen der Klimaneutralität sollte ein unterschiedliches Tempo gewährt werden.

Der tschechische Regierungschef Andrej Babis machte neben den Finanzfragen noch eine neue Front auf und forderte auch Zusagen zugunsten der Kernkraft. "Ohne Atomenergie erreichen wir die Klimaneutralität nicht", sagte Babis dem tschechischen Fernsehen. Die EU-Kommission und der Gipfel müssten klar feststellen, dass die Kernkraft eine "saubere und emissionsfreie Energiequelle" sei. Ungarn teilt die Position, wie Kanzleramtsminister Gergely Gulyas in Budapest deutlich machte.

Babis verlangte darüber hinaus Garantien, dass Tschechiens Nachbarstaaten Ausbaupläne für die AKW-Standorte Temelin und Dukovany nicht blockieren. Temelin liegt nahe der Grenze zu Bayern. Umweltschützer kritisieren tschechische Meiler als störanfällig.

Nach EU-Recht kann jeder Mitgliedstaat den eigenen Energiemix frei wählen, also auch Atomstrom produzieren. Darauf verwies auch der französische Präsident Emmanuel Macron, dessen Land selbst mehr als 60 Prozent des Stroms aus Atomkraft bezieht.

Umstritten ist jedoch, ob EU-Mittel in den Ausbau der Kernenergie fließen können, um Klimaschutzziele zu erreichen. Macron nannte Länder, die dies sehr kritisch sehen: Österreich, Luxemburg und Deutschland. Der luxemburgische Ministerpräsident Xavier Bettel sagte denn auch: "Wir sind der Überzeugung, dass Atomenergie weder nachhaltig noch sicher ist." EU-Gelder sollte es dafür nicht geben. Die Europa-Grünen warnten kategorisch davor, Atomstrom bei der Energiewende zu nutzen.

Für das "klimaneutrale" Europa hatte von der Leyen am Mittwoch ihren "Green Deal" vorgelegt. Gemeint ist, dass von 2050 an keine zusätzlichen Treibhausgase aus Europa mehr in die Atmosphäre gelangen. Dafür müssen Energieversorgung, Industrie, Verkehr und Landwirtschaft komplett umgebaut werden.

Beim Gipfel - dem ersten für Michel und von der Leyen in ihren neuen Ämtern - war dies nicht der einzige Punkt, über den sich die Länder entzweien. Noch schwieriger ist die Debatte über den Finanzrahmen für die Jahre 2021 bis 2027. Hier sind die Positionen total verkantet.

Die EU-Kommission hatte einen Haushaltsrahmen in Höhe von 1,11 Prozent der gemeinsamen Wirtschaftskraft vorgeschlagen. Deutschland, Österreich und die Niederlande wollen jedoch maximal 1,0 Prozent ausgeben. Ein finnischer Kompromissvorschlag von 1,07 Prozent fand kaum Unterstützung. Das EU-Parlament will ohnehin viel mehr Geld, nämlich 1,3 Prozent. Die Debatte ist auch deshalb schwierig, weil einerseits neue EU-Aufgaben finanziert werden sollen, andererseits aber nach dem geplanten EU-Austritt Großbritanniens Milliarden Euro fehlen werden.

Der Brexit ist am Freitag Thema beim Gipfel, bei dem sich Premier Boris Johnson wegen der britischen Parlamentswahl vertreten ließ. Für Freitag ist zudem eine Debatte über Eurozonenreformen geplant./vsr/DP/fba