Von Hans Bentzien

FRANKFURT (Dow Jones)--Die wichtigsten Zentralbanken der Welt werden ihre Leitzinsen im nächsten Jahr voraussichtlich deutlich senken. Analysten und Marktteilnehmer rechnen damit, dass sowohl die Federal Reserve als auch die Europäische Zentralbank (EZB) ihre Geldpolitik etwas lockern werden, nachdem sie sie 2022/2023 in einem Rekordtempo gestrafft hatten. Damit es aber tatsächlich so kommt, müssen bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein.

Vor allem muss die Inflation wie erwartet zurückgehen - und zwar nicht einfach für einen Monat auf 2 Prozent. Vielmehr müssen die Notenbanker überzeugt davon sein, dass die Inflation "in der mittleren Frist" immer noch da liegen wird, trotz der Bemühungen von Arbeitnehmern, die erlittenen Reallohnverluste aufzuholen und trotz der Bemühungen der Unternehmen, höhere Lohnstückkosten über höhere Preise zu kompensieren - und vielleicht noch ein bisschen mehr.

Gerade im Dienstleistungssektor, der in den hoch entwickelten Volkswirtschaften das Gros der Wirtschaft ausmacht, sind die Lohnkosten die wichtigste Bestimmungsgröße der Inflation.


   Fed senkt ihre Zinsen erstmals im Frühjahr 

Den Anfang mit Zinssenkungen dürfte 2024 die Fed machen. Fed-Chairman Jerome Powell bereitete die Lockerung rhetorisch nach der jüngsten FOMC-Sitzung vor, als er davon sprach, dass Zinssenkungen nun ein Diskussionsthema seien. Zudem prognostizierten die FOMC-Mitglieder zuletzt keine Zinsanhebungen mehr, dafür aber drei (zuvor: zwei) Zinssenkungen 2024.

Gerechtfertigt wird das durch eine langsame Abkühlung des Arbeitsmarkts, was an einem weniger starken Beschäftigungswachstum und langsamer steigenden Löhnen ablesbar ist. Zugleich ist die Kernteuerung auf rund 4 Prozent gesunken und der Preisindex der privaten Konsumausgaben stieg in der Kernabgrenzung (Kern-PCE-Deflator) nur noch mit einer Jahresrate 3,5 Prozent.

Fed-Funds-Futures preisen derzeit eine erste Fed-Zinssenkung für 28. März ein und bis Ende 2024 Schritte von insgesamt 150 Basispunkten. Das wären doppelt so viele wie von der Fed prognostiziert. Die Wahrheit könnte am Ende wie so oft in der Mitte liegen - es kann aber auch alles ganz anders kommen, wenn sich die Rahmenbedingungen nicht wie erwartet entwickeln.


   EZB leitet zur Jahresmitte eine Lockerung ein 

Die EZB hat ihre Zinsen in den vergangenen beiden Jahren auf ein Niveau gehoben, dass zuletzt vor 20 Jahren zu beobachten war. Grund war allerdings eine Inflation, die noch ganz andere Superlative erfüllte. Nun geht die Inflation wie in den USA stark zurück - zuletzt auf nur noch 2,4 Prozent. Die jüngsten EZB-Prognosen sehen für 2024 allerdings eine Teuerungsrate von 3,2 Prozent vor und selbst 2025 werden demnach 2 Prozent noch nicht erreicht sein.

Von Preisstabilität in der mittleren Frist kann also streng genommen nicht die Rede sein. Entsprechend zieren sich EZB-Offizielle derzeit, Zinssenkungen zu thematisieren. Sie sprechen stattdessen von einem "Plateau" höherer Zinsen und dass die EZB "geduldig" sein müsse. Wichtig wird aus Sicht der EZB sein, wie sich die Löhne entwickeln.


   Europäische Löhne reagieren verzögert auf Inflation 

Anders als in den USA reagieren Löhne in Europa in Schüben auf die Inflationsentwicklung, und noch haben die Arbeitnehmer ihre Reallohnverluste infolge von Pandemie und Ukraine-Krieg nicht ausgleichen können. Zuletzt sind die Löhne mit Jahresraten von 5 Prozent gestiegen, und die EZB wartet darauf, dass sich dieses Wachstum abkühlt. Ein einigermaßen verlässliches Bild der Lohnentwicklung wird sich wohl erst ab der Jahresmitte zeigen.

Auch das ist ein Grund, warum Analysten überwiegend damit rechnen, dass die EZB ihre Zinsen frühestens im Juni senken wird. Marktteilnehmer sind wie üblich etwas offensiver und rechnen mit April. Auch über das Ausmaß der Zinssenkungen herrscht naturgemäß Unsicherheit. Volkswirte halten 50 bis 100 Basispunkte für möglich. Es gibt aber auch Ausreißer mit 150 Basispunkten - was ESTR-Forwards tatsächlich einpreisen.

Ein Argument für eine erste Zinssenkung zur Jahresmitte ist der ab Juli beschleunigte Abbau der EZB-Bilanz, der einen restriktiven Impuls darstellt.


   Wie verdauen Finanzsektor und Realwirtschaft die höheren Zinsen? 

Das alles setzt natürlich voraus, dass es keine neuen Schocks gibt, die sich naturgemäß nicht prognostizieren lassen. In der Regel kommen sie aus Ecken, in denen man sie nicht vermutet hätte. Ganz allgemein gesagt muss sich 2024 noch erweisen, dass Finanzsektor und Realwirtschaft die beispiellose geldpolitische Straffung verdauen, ohne das "etwas kaputt geht".

Zu den bekannten Belastungsfaktoren, die man nicht mehr als Schocks bezeichnen kann, gehören der Krieg in der Ukraine und der Nahost-Konflikt mit ihren möglichen Auswirkungen auf Energiepreise und Lieferketten und damit auf Konjunktur und Inflation. Nicht mehr im laufenden Jahr wirksam werden wohl die Ergebnisse der US-Wahlen im November.


   Unklare Aussichten bei BoJ, BoE und SNB 

Bei anderen Zentralbanken ist die Lage weniger gut zu beurteilen. Auch die Bank of Japan (BoJ) beobachtet die Lohndynamik, um daraus Schlüsse für den mittelfristigen Inflationstrend zu ziehen. Nur geht es bei ihr nicht um eine Lockerung der Geldpolitik, sondern um die Frage, ob und wann sie ihre Lockerung zurückführt und von Negativzins und Zinskurvensteuerung Abstand nimmt. Die meisten Analysten rechnen für die nächsten Monate mit keiner Änderung der Geldpolitik.

Die Schweizerische Nationalbank (SNB) hatte und hat mit einer weitaus geringeren Inflation zu tun als andere Zentralbanken. Zuletzt lagen die Teuerung nur noch bei 1,4 Prozent und der Leitzins bei 1,75 Prozent. Allerdings ist auch das nur eine Momentaufnahme. Mieterhöhungen, eine Anhebung der Mehrwertsteuer und andere Faktoren werden dafür sorgen, dass die SNB ihre Zinsen 2024 - wenn überhaupt - erst später im Jahr senkt.

Mit Blick auf die Bank of England (BoE) haben zuletzt Spekulationen auf eine Zinssenkung zugenommen, weil Inflation und Kerninflation im November deutlicher als erwartet gefallen sind - ähnlich wie im Rest Europas. Allerdings lag die Kerninflationsrate immer noch bei 5,1 Prozent, und im Monetary Policy Committee gab es zuletzt noch drei Stimmen für eine Zinserhöhung.

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December 21, 2023 07:00 ET (12:00 GMT)