Von Michael Otto Denzin

FRANKFURT (Dow Jones)--DAX & Co steht eine der spannendsten Wochen des bisherigen Jahres bevor. Mit ihrer Juni-Sitzung am Donnerstag wird sich die Europäische Zentralbank (EZB) nicht mehr davor drücken können, Farbe beim Thema Inflationsbekämpfung zu bekennen. Das Thema Preisexplosion und Folgen für die Zinssätze dürfte die Märkte auch deshalb dominieren, weil aus den USA und China Verbraucherpreisdaten anstehen.

Angesichts der mehr als einjährigen Untätigkeit der EZB hat sich die Inflation in viele Lebensbereiche ausgedehnt und steckt weitere an: Neben Energie und Nahrung sind jüngst auch die Mieten in den Blick geraten.

So müssen sich mehr als eine halbe Million Mieter von Vonovia wegen der Inflation auf Mietsteigerungen einstellen. "Wenn die Inflation dauerhaft bei 4 Prozent liegt, müssen auch die Mieten künftig jährlich dementsprechend ansteigen", sagte Vonovia-Vorstandschef Rolf Buch im Handelsblatt.


   Inflation führt zu Kaufkraft-Kollaps 

Die Kaufkraft wird damit von allen Seiten in die Zange genommen. Dazu passend knickte der Umsatz im Einzelhandel im April sogar inflationsbereinigt um 5,4 Prozent in Deutschland ein. Alexander Krüger, Chefvolkswirt von Hauck Aufhäuser, rechnet mit einer weiter hohen Inflation und damit, dass die Kaufkraft in Deutschland weiter schrumpft, "(...) und damit wird auch der Realeinkommensverlust eine dauerhafte Geschichte", warnt er.

Damit könnte das Ende der Fahnenstange bei der Verbraucherpreis-Inflation von zuletzt 8,1 Prozent in Europa noch nicht in Sicht sein. Die Lohn-Preis-Spirale hat gerade erst begonnen in den Tarifverhandlungen und die Gewerkschaften gehen mit Forderungen nach einem Inflationsausgleich in die anstehenden Gespräche. "Das Risiko einer Lohn-Preis-Spirale ist nicht mehr von der Hand zu weisen", sagt Ulrich Stephan, Chef-Anlagestratege für Privat- und Firmenkunden der Deutschen Bank. Der Kostenfaktor Arbeit wird damit deutlich teurer für die Unternehmen.

Aber auch Roh- und Grundstoffe verteuern sich weiter, ablesbar an den Erzeugerpreisen in der Eurozone, die zuletzt 37,2 Prozent über dem Vorjahresniveau lagen. Diese Kosten kommen üblicherweise erst mit sechs Monaten oder mehr Verzögerung in den Regalen an.


   Höhere Exporte aus China retten nicht vor Margendruck 

Etwas Entspannung könnten wieder anlaufende Lieferketten in China bringen angesichts der nun allmählich zurückgenommenen Corona-Lockdowns. "Viele Waren stehen nicht im Regal, sondern im Container in einem Hafen von China", sagte Klaus Wohlrabe vom Ifo-Institut. Gute Handelsbilanzdaten aus China kommende Woche mit einem steigenden Export dürften somit am Aktienmarkt begrüßt werden.

Dessen ungeachtet droht das Kartenhaus von Unternehmensinvestitionen mit inflationsresistenten Margen umzufallen, weil die Margen von allen Seiten unter Druck stehen. Das gilt selbst für den Lebensmittelhandel. Hier brach der Umsatz im April in Deutschland um 7,7 Prozent ein - der größte Einbruch seit Beginn der Zeitreihe 1994. Preiserhöhungen können kaum mehr an den Endkunden weitergereicht werden. Bereits jetzt sind Preispunkte erreicht, die zu Kaufverweigerung und Substitution führen.


   Neue Projektionen der EZB zur Inflation wieder mal falsch? 

Interessant wird, wie die EZB das Thema Inflation ansprechen wird. Das gilt vor allem für die in harte Zahlen gegossenen Stabsprojektionen, wo sie seit einem Jahr ziemlich falsch liegt. Die Inflation wurde systematisch um bis zum Doppelten unterschätzt, wie das Magazin "The Pioneer" verfolgt hat. Die Frage am Markt könnte also sein, warum man nun der EZB glauben sollte.

Auch wenn es für viele Experten dringend geboten wäre, eine unmittelbare Zinserhöhung ist in der kommenden Woche wohl nicht zu erwarten. ING-Europa-Chefvolkswirt Carsten Brzeski hält es für nahezu ausgeschlossen, dass die EZB schon jetzt ihren Einlagensatz erhöht. Mit ihm weisen viele Analysten darauf hin, dass die EZB ansonsten von ihrer sogenannten Forward Guidance abweichen würde, wonach sie zunächst das Anleihekaufprogramm beenden will, bevor es an die Zinsen geht. Eine Abweichung von diesem Fahrplan würde für Verunsicherung am Markt sorgen.


   Erster Zinserhöhung wohl im Juli 

Mehr als kosmetische Schritte sind von der EZB daher nicht zu erwarten. Notwendig wäre eine Zinserhöhung um 75 Basispunkte, sagt Thomas Mayer, Chef des Flossbach von Storch Research Institute: "Wir befinden uns mitten in einer Stagflation, wie sie in den 1970er Jahren herrschte". Schon damals habe die Stagflation nur mit deutlich positiven realen Leitzinsen durchbrochen werden können.

Tatsächlich dürfte die EZB ihre Sitzung aber nur nutzen, um ein früheres Ende der Netto-Anleihekäufe neben ihren neuen Projektionen anzukündigen, erwartet Pietro Baffico, European Economist bei Abrdn. Dies dürfte auf einen Ausstieg aus dem negativen Zinsbereich hindeuten, angesichts der unterschiedlichen Auffassungen innerhalb der EZB dürfte aber auch dann nicht gänzlich klar sein, wie schnell die Politik angepasst wird.

Das Konsensszenario von Volkswirten sieht einen ersten Zinsschritt im Juli und das Ende der Anleihekäufe im dritten Quartal vor. Der Aktienmarkt dürfte damit gut leben können, denn eine Rückkehr zu positiven Zinsen über alle Laufzeiten wäre auch eine Rückkehr zur Normalität. Der CEO von JP Morgan, Jamie Dimon, sagte dazu: "Die Negativzinsen waren ein riesiger Fehler".

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June 03, 2022 07:41 ET (11:41 GMT)