Berlin (Reuters) - Der Corona-Expertenrat der Bundesregierung drängt die Politik dazu, das Land mit einer Reihe von Reformen jetzt auf eine mögliche neue Pandemie-Welle im Herbst vorzubereiten.

Dafür werde eine "solide rechtliche Grundlage für Infektionsschutzmaßnahmen benötigt, um schnell auf das Infektionsgeschehen reagieren zu können", heißt es in einer am Mittwoch veröffentlichten ausführlichen Empfehlung des Gremiums. Während Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) erneut eine starke Belastung des Gesundheitssystems befürchtet, will Justizminister Marco Buschmann (FDP) vor neuen Beschlüssen erst die Evaluierung der Corona-Erfahrungen durch ein zweites Gremium der Bundesregierung, den sogenannten Sachverständigenrat, am 30. Juni abwarten.

Der aus 19 Wissenschaftlern bestehende Expertenrat räumte ein, dass es derzeit unklar sei, wie die Corona-Lage im Herbst und Winter genau aussehen werde. Deshalb nennt er drei mögliche Szenarien. In einem "Basismodell" wird angenommen, dass die Zahl der Infektionserkrankungen im Herbst eher moderat steigt und die Gefährlichkeit neuer Virus-Varianten sich nicht grundlegend von der der jetzigen unterscheidet. "Trotz der moderaten Covid-19-Belastung der Intensivmedizin könnten die Arbeitsausfälle erneut flächendeckende Maßnahmen des Übertragungsschutzes (Masken und Abstand in Innenräumen), aber auch Maßnahmen der Kontaktreduktion nach regionaler Maßgabe erforderlich machen", heißt es mit Blick auf die von Bund und Ländern zu treffenden Maßnahmen. Dieses Szenario erwarte man etwa bei der Ausbreitung der neuen Variante BA.5, sagte Leif Erik Sander, Infektiologe an der Berliner Charité-Klinik.

Bei einem Negativszenario könnte eine sinkende Immunwirkung mit dem Auftreten gefährlicherer Corona-Varianten zusammentreffen, so dass auch vollständig Geimpfte einen schweren Krankheitsverlauf haben könnten. Dann würde das Gesundheitssystem erneut durch Covid-19-Fälle auf den Intensiv- und Normalstationen stark belastet. In diesem Fall könnten nötige Schutzmaßnahmen wie Maskenpflicht und Abstandsgebot erst im Frühjahr 2023 zurückgefahren werden, warnte der Expertenrat. Im günstigsten Szenario seien neue Varianten weniger gefährlich, so dass Infektionsschutzmaßnahmen "nicht mehr oder nur für den Schutz von Risikopersonen notwendig" seien.

Nötig ist für den Expertenrat auf jeden Fall eine schnelle Digitalisierung des Gesundheitswesens, damit man die Datenlage sehr schnell beurteilen könne. "Die Regeln müssen zudem einfach und verständlich sein", forderte Cornelie Betsch, Professorin für Gesundheitskommunikation an der Universität Erfurt. Heyo Kroemer, Vorsitzensvorsitzender der Charité, sagte, man erwarte von der Politik eine schnelle Umsetzung vieler Vorschläge.

Der Zeitpunkt der Veröffentlichung unterstützt die Forderung von SPD-, Grünen- und Unions-Politikern, dass sich Bund und Länder rechtzeitig auf den Herbst vorbereiten sollten. Gesundheitsminister Lauterbach sagte deshalb, die Empfehlungen würden Basis für den Corona-Herbstplan der Bundesregierung werden. Dass selbst im günstigsten Fall das Gesundheitswesen stark belastet sein wird, sei relativ sicher, betonte der SPD-Politiker. "Auf alle Szenarien müssen und werden wir vorbereitet sein: mit angepassten Test-, Impf- und Behandlungsstrategien sowie mit einem soliden gesetzlichen Rahmen."

Die Ampel-Koalition streitet seit Regierungsantritt über das bereits mehrfach geänderte Infektionsschutzgesetz, bei dem die FDP stets auf Lockerungen der Corona-Schutzmaßnahmen drängte. SPD und Grünen werfen den Liberalen vor, die letzte Änderung bewusst bis zum letzten Moment verschleppt zu haben - mit dem Hintergedanken, dass ohne eine Einigung in der Ampel alle Corona-Schutzregeln auslaufen, die derzeit bis zum 23. September begrenzt sind. Justizminister Buschmann sieht auch jetzt für Änderungen des Infektionsschutzgesetzes keinen Grund zur Eile. Man solle die Empfehlungen des Sachverständigenrates am 30. Juni abwarten, sagte er im ARD Morgenmagazin. Bis zur Sommerpause könne man mit den Ländern beraten, um dann nach der Sommerpause im Bundestag ein neues Infektionsschutzgesetz auf den Weg zu bringen. In den vergangenen Tagen hatte Grünen-Parteichef Omid Nouripour dagegen eine rasche Änderung des Infektionsschutzgesetzes gefordert.