Frankfurt (Reuters) - Mercedes-Benz muss einem Diesel-Besitzer unter Umständen Schadenersatz wegen einer unzulässigen Abschalteinrichtung bei der Abgasreinigung leisten.

Der Käufer habe einen Anspruch auf Schadenersatz, wenn ihm durch die Abschalteinrichtung ein Schaden entstanden sei, entschied der Europäische Gerichtshof (EuGH) am Dienstag zur Klage eines Mercedes-Käufers gegen den Autobauer. Diese Frage wollte das mit der Klage befasste Landgericht Ravensburg vom EuGH geklärt haben. Das Landgericht muss nun die Höhe des entstandenen Schadens prüfen und klären, inwiefern dieser durch die tatsächliche Nutzung des Wagens ausgeglichen ist.

Der EuGH fällt damit als erstes oberstes Gericht ein Urteil zu Ungunsten von Mercedes-Benz. Der Bundesgerichtshof (BGH) hatte Schadenersatzansprüche bisher abgelehnt, da er für diese Vorsatz zum Schädigen des Käufers zur Voraussetzung machte, bei dem Autobauer aber nur Fahrlässigkeit erkennen konnte. Der BGH hat eine neue Verhandlung für den 8. Mai angesetzt, um "Folgerungen für das deutsche Haftungsrecht" zu erörtern. Die Karlsruher Richter hatten noch anhängige Fälle auf Eis gelegt, nachdem das Landgericht Ravensburg den EuGH angerufen hatte. Selbst hatte der BGH die Fälle dem europäischen Gericht bisher nicht vorgelegt.

Mercedes-Benz erklärte, es bleibe abzuwarten, wie die nationalen Gerichte die Entscheidung des EuGH anwendeten. "Der EuGH hat klar betont, dass es nur um den Schaden geht, der einem Käufer tatsächlich entstanden ist", ergänzte das Unternehmen. Zudem müsse eine unzulässige Abschalteinrichtung vorliegen, was im vorliegenden Fall streitig sei.

Nach Einschätzung der Berliner Kanzlei Goldenstein, die nach eigenen Angaben mehr als 50.000 Mandanten im Zusammenhang mit dem Diesel-Abgasskandal vertritt, können Ersatzansprüche jetzt leichter durchgesetzt werden. "Künftig müsste im Prinzip nur noch belegt werden, dass das jeweilige Fahrzeug zum Kaufzeitpunkt eine illegale Manipulationssoftware enthielt und der Käufer davon nichts wusste", erklärte die Kanzlei. Auch der BGH müsse Besitzern von Diesel-Fahrzeugen mit sogenannten Thermofenstern Schadensersatz zusprechen. "Von dem heutigen Urteil können europaweit mehrere Millionen Menschen profitieren. Auf die Automobilindustrie rollt hingegen fast acht Jahre nach dem Bekanntwerden des Abgasskandals abermals eine Klagewelle zu", erklärte Rechtsanwalt Claus Goldenstein.

Der Rechtsstreit im Gefolge des Diesel-Abgasskandals, der mit Volkswagens Eingeständnis der Abgasmanipulation im September 2015 begann, steht für zig Tausende Klagen gegen Mercedes-Benz und andere Hersteller. Deren Technik ist aber vom ursprünglichen VW-Abgasbetrug zu unterscheiden: VW sorgte per Software dafür, dass neue Modelle Stickoxid-Grenszerte nur zur Typgenehmigung auf dem Prüfstand einhielten, auf der Straße aber nicht. Der Konzern büßte dafür mit mehr als 32 Milliarden Euro Geldstrafen und Entschädigungen. Bei Mercedes und anderen Autobauern, darunter ebenfalls VW, geht es um eine Abgasreinigung, die bei niedriger Außentemperatur nur eingeschränkt funktioniert. Nach EU-Gesetz und Auslegung des EuGH ist das Drosseln nur zulässig, um Schaden am Motor, aber nicht dessen Verschleiß zu verhindern. Auch das Landgericht Ravensburg bewertete die bei der C-Klasse eingebaute Abgasreinigung als unzulässige Abschalteinrichtung.

Nach Angaben von Mercedes-Benz scheiterten bisher mehr als 95 Prozent von über 30.000 Schadenersatzklagen, darunter die wenigen bis zum BGH verfolgten Klagen. Denn nach dessen Auffassung besteht nur bei Vorsatz, also gezielter Täuschung des Käufers, aber nicht bei Fahrlässigkeit Anspruch auf Schadenersatz. Eine Haftung bei Fahrlässigkeit setze nach deutschem Recht voraus, dass die EU-Vorschrift zu Dieselabgasen direkt die Interessen des Autokäufers schützt. Das war nach Ansicht des BGH nicht der Fall. Der EuGH erklärte im Gegensatz zum BGH, die EU-Norm zur Typgenehmigung schütze auch den Käufer, denn der wolle ein Auto, das er jederzeit in der Europäischen Union fahren und auch wieder verkaufen könne. Mit der unzulässigen Abschalteinrichtung sei das aber nicht möglich, es liege folglich ein finanzieller Schaden vor, der ersetzt werden müsse. "Die Mitgliedstaaten müssen daher vorsehen, dass der Käufer eines solchen Fahrzeugs gegen den Hersteller dieses Fahrzeugs einen Anspruch auf Schadensersatz hat", erklärte der EuGH. Die Modalitäten dafür könnten auch nationale Gerichte klären. (AZ C-100/21)

(Bericht von Ilona Wissenbach, Ursula Knapp. Redigiert von Hans Seidenstücker. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an die Redaktionsleitung unter frankfurt.newsroom@thomsonreuters.com)