- von Andrew Osborn und Natalia Zinets

Moskau/Kiew (Reuters) - Russlands Präsident Wladimir Putin hat seine Drohung wahr gemacht und den Befehl zum Angriff auf die Ukraine erteilt.

Die ukrainische Regierung und das Militär berichteten am Donnerstag von mehreren Angriffen vor allem im Norden und Nordosten des Landes. Explosionen waren in der Hauptstadt Kiew, in Charkiw und der Hafenstadt Mariupol am Asowschen Meer zu hören. Nach ersten Angriffen in der Nacht folgte eine zweite Welle von Raketenbeschuss am Vormittag. Nach Darstellung der ukrainischen Grenztruppen drangen zudem russische Panzerverbände im Osten und Nordosten in ukrainisches Gebiet ein. Angriffe gebe es auch von der annektierten Halbinsel Krim aus. Weltweit stieß das Vorgehen Russlands auf Fassungslosigkeit. Die EU kündigte ein neues und beispielloses Sanktionspaket an.

In mehreren Städten wurden nach Angaben des ukrainischen Innenministeriums militärische Kommandozentralen angegriffen. Betroffen davon sei auch Kiew. Viele Menschen versuchten, die Hauptstadt zu verlassen, auf den Ausfallstraßen bildeten sich kilometerlange Staus. Nach den Worten von Außenminister Dmytro Kuleba griff das russische Militär von mehreren Seiten aus massiv an. Er sprach von einer großangelegten russischen Invasion. Präsident Wolodymyr Selenskyj verhängte das Kriegsrecht. In Donezk im Osten des Landes, die von pro-russischen Separatisten kontrolliert wird, war laut Augenzeugen Artilleriefeuer zu hören. Pro-russische Separatisten brachten nach eigenen Angaben zwei Orte in der Region Luhansk unter ihre Kontrolle, wie die russische Nachrichtenagentur Ria berichtete.

Russlands Präsident Wladimir Putin äußerte sich kurz vor Beginn der Angriffe im Fernsehen. Er habe die Militäraktion autorisiert, Russland habe keine andere Wahl als sich zu verteidigen, sagte Putin. "Russland kann sich nicht sicher fühlen, sich entwickeln und leben mit einer konstanten Bedrohung, die von der modernen Ukraine ausgeht", sagte Putin. "Jede Verantwortung für Blutvergießen liegt bei dem regierenden Regime in der Ukraine." Das ganze Ausmaß des russischen Angriffs war zunächst nicht zu überblicken. Putin sagte aber, Ziel sei nicht, ukrainisches Territorium zu besetzen. Es gehe darum, die Menschen zu schützen. Das ukrainische Militär solle die Waffen niederlegen.

NATO - WERDEN ALLE VERBÜNDETEN SCHÜTZEN

UN-Generalsekretär Antonio Guterres rief Putin auf, die Angriffe einzustellen und dem Frieden eine Chance zu geben. US-Präsident Joe Biden kündigte eine "gemeinsame und entschiedene Reaktion auf die ungerechtfertigte Attacke des russischen Militärs" an. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg berief ein Treffen der Verteidigungsallianz ein. "Die Nato-Verbündeten werden zusammenkommen, um die Folgen der aggressiven Handlungen Russlands zu erörtern", erklärte er in Brüssel. "Die Nato wird alles tun, was nötig ist, um alle Verbündeten zu schützen und zu verteidigen." Die Ukraine ist nicht Teil der Nato. Putin hatte von der Regierung in Kiew unter anderem gefordert, dauerhaft auf eine Nato-Mitgliedschaft zu verzichten.

Bundeskanzler Olaf Scholz erklärte: "Dies ist ein furchtbarer Tag für die Ukraine und ein dunkler Tag für Europa." Der Angriff Russlands sei ein "eklatanter Bruch des Völkerrechts" und "durch nichts zu rechtfertigen". Deutschland verurteile "diesen rücksichtslosen Akt" des russischen Präsidenten Putin auf das Schärfste. "Unsere Solidarität gilt der Ukraine und ihren Menschen." Russland müsse die Militäraktion sofort einstellen. Scholz kündigte noch für den Lauf des Tages eine enge Abstimmung mit den Partnern in der G7, der Nato und der Europäischen Union an. Außenministerin Annalena Baerbock erklärte: "Die Weltgemeinschaft wird Russland diesen Tag der Schande nicht vergessen."

US-Außenminister Antony Blinken betonte die Bedeutung des Artikel 5 im Nato-Vertrag, der Verteidigungszusage für alle Nato-Mitglieder im Falle eines Angriffs. Er und US-Verteidigungsminister Lloyd Austin hätten mit Nato-Generalsekretär Stoltenberg gesprochen, teilt er mit. Sie hätten über zusätzliche Maßnahmen zur Sicherung der östlichen Grenzen der Nato gesprochen. Polen forderte die Nato auf, ihre Ost-Flanke zu verstärken.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sagte in Brüssel, dass man russisches Vermögen in der EU einfrieren und russischen Banken den Zugang zu Finanzmärkten abschneiden werde. "Die EU wird das härtestes Sanktionspaket beschließen, dass sie je beschlossen hat", sagte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell. Beide betonten, dass die EU zudem die Ukraine weiter unterstützen werde. "Wir stehen an der Seite der Ukraine", sagte Borrell. Die 27 EU-Staats- und Regierungschefs treffen noch am Abend zu einem Sondergipfel zusammen.

ÖL UND GOLD LEGEN ZU, AKTIEN AUF TALFAHRT

An den Finanzmärkten trieb die Eskalation der Ukraine-Krise die Preise für Öl, Gold und zahlreiche weitere Rohstoffe in die Höhe, die Aktienkurse fielen. Die Öl-Sorte Brent aus der Nordsee übersprang am Donnerstagmorgen erstmals seit siebeneinhalb Jahren die Marke von 100 Dollar. An der Frankfurter Börse brach der Deutsche Aktienindex Dax um 4,6 Prozent auf 13.962 Punkte ein und steuerte auf den größten Tagesverlust seit dem Börsencrash im März 2020 zu. Der Rubel fiel auf ein Rekordtief.