Dubai (Reuters) - Bei der Stichwahl um das Präsidentenamt am Freitag im Iran stehen der Hardliner Said Dschalili und der gemäßigte Reformer Massud Peseschkian vor demselben Problem - dem geringen Interesse der Wählerinnen und Wähler.

Während Dschalili die Anhänger aller Hardliner-Gruppen vereinen muss, kämpft Peseschkian mit der Enttäuschung gegenüber den Reformern. Rund 60 Prozent der rund 61 Millionen Wahlberechtigten haben in der ersten Runde am vergangenen Freitag auf eine Stimmabgabe verzichtet. Wer immer Präsident wird - er steht loyal zum Obersten Führer, Ajatollah Ali Chamenei, und könnte dem 85-Jährigen möglicherweise nachfolgen. Zumindest hat er Einfluss auf die Bestimmung des geistlichen und politischen Oberhauptes der Islamischen Republik.

Die historisch niedrige Wahlbeteiligung in der ersten Runde, die gerade einmal 40 Prozent erreichte, werten Kritiker und Experten als Misstrauensvotum gegen die Islamische Republik, die von Geistlichen und den Revolutionsgarden getragen wird. Das geistliche Establishment braucht eine hohe Beteiligung, es geht um seine Legalität, seine Glaubwürdigkeit - und das vor dem Hintergrund der eskalierenden Konflikte in der Region und des Drucks des Westen wegen des iranischen Atomprogrammes.

Auch der Reformer Peseschkian ringt um Glaubwürdigkeit. Doch viele Menschen sind von den vergleichsweise gemäßigten Reformern enttäuscht, auch weil die Versprechen, die ihr Präsident Hassan Ruhani gemacht hatte, sich nicht erfüllt haben. Er warb vor zehn Jahren für das 2015 geschlossene Atomabkommen mit der Aussicht, die Wirtschaft werde nach Ende der Sanktionen einen Aufschwung erleben. Stattdessen stieg US-Präsident Donald Trump 2018 aus dem Abkommen aus und verhängte erneut Sanktionen gegen den Iran.

"STICHWAHL IST EIN ZUSAMMENPRALL DER VISIONEN"

Dschalili, der für vier Jahre das Büro Chameneis leitete, vertritt eine aggressive Außen- und Innenpolitik. Peseschkian, ein ehemaliger Gesundheitsminister, plädiert für mehr soziale und politische Freiheiten. Beide versprechen, die Wirtschaft wiederzubeleben, die unter Misswirtschaft, staatlicher Korruption und Sanktionen leidet. "Die Stichwahl ist ein Zusammenprall der Visionen: Dschalilis Hardliner-Ideologie und Peseschkians Aufruf zu notwendiger Mäßigung und Veränderung", sagt Ali Vaez von der International Crisis Group. "Über den Kampf gegen Dschalili hinaus muss Peseschkian die Wahlmüdigkeit bekämpfen und sich zumindest einige Stimmen dieser entscheidenden schweigenden Mehrheit sichern, um zu gewinnen."

Für beide Kandidaten dürfte entscheidend sei, die Anhänger des Parlamentspräsidenten Mohammad Baker Kalibaf zu überzeugen, eines Hardliners, der in der ersten Runde auf dem dritten Platz landete. Zugleich müssen Dschalili und Peseschkian die jungen Wählerinnen und Wähler gewinnen - rund 60 Prozent der etwa 87 Millionen Menschen im Iran sind unter 30 Jahre alt. Doch sie werden nicht vergessen haben, wie brutal der im Mai bei einem Hubschrauberabsturz tödlich verunglückte Präsident Ebrahim Raisi die Massenkundgebungen uner dem Motto "Frau - Leben - Freiheit" niederschlagen ließ. Die heftigsten Proteste seit der Islamischen Revolution im Jahr 1979 hatten sich im September 2022 am Tod von Mahsa Amini nach ihrer Festnahme durch die sogenannte Sittenpolizei entzündet. Die junge Frau soll ihr Kopftuch unislamisch getragen haben.

"WAHL ZWISCHEN SCHLIMM UND SCHLIMMER"

"Angesichts von Dschalilis Extremismus halte ich es für durchaus möglich, dass die gemäßigteren konservativen Wähler, die für Kalibaf gestimmt haben, entweder für Peseschkian stimmen oder am kommenden Freitag zu Hause bleiben", sagt der Analyst Gregory Brew von der Eurasia Group. Peseschkian wird von der Reformfraktion unterstützt, die in den vergangenen Jahren ins Abseits gedrängt wurde, während die Hardliner dominieren. Sein Wahlkampf konzentriert sich auf die Angst vor dem Schlimmsten. Und so sagt Mehrschad, ein 34-jähriger Lehrer aus der Hauptstadt Teheran: "Ich werde dieses Mal wählen, weil eine Präsidentschaft Dschalilis weitere Einschränkungen mit sich bringt. Dies ist eine Wahl zwischen schlimm und schlimmer."

Weitreichende Lockerungen sind unter einem Präsidenten Peseschkian nicht zu erwarten. Der Reformer wird sich kaum mit der erzkonservativen geistlichen Führung und den Hardlinern anlegen. Daher rechnen Experten nicht damit, dass er große Unterstützung der Menschen erhält, die sich wirkliche Reformen wünschen und aus Protest den Wahlen meist ferngeblieben sind. Ohnehin hat der Präsident zwar die Verantwortung für das tägliche politische Geschäft. Doch das letzte Wort in allen Belangen - vor allem in der Außen- und Atompolitik - hat der Oberste Führer. Und so denken Viele wie die Studentin Farsaneh: "Peseschkian ist Teil des Establishments. Er wird Chameneis Befehlen folgen. ... Lassen Sie die Welt wissen, dass die Iraner die Islamische Republik nicht wollen. Ich werde nicht wählen."

(Bericht von: Parisa Hafezi, geschrieben von Sabine Ehrhardt, redigiert von Christian Götz. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com (für Politik und Konjunktur) oder frankfurt.newsroom@thomsonreuters.com (für Unternehmen und Märkte)