--Institute senken BIP-Prognose 2024 auf +0,1 Prozent

--Institute: Deutsche Wirtschaft ist angeschlagen

--Institute empfehlen behutsame Reform der Schuldenbremse

(Neu: Mehr Details, Aussagen)

Von Andrea Thomas

BERLIN (Dow Jones)--Die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute haben die Konjunkturprognose für Deutschland für dieses Jahr deutlich nach unten korrigiert und sehen die Wirtschaft insgesamt als angeschlagen an. Im kommenden Jahr dürfte sich das Wachstum auch aufgrund eines besseren Auslandsgeschäfts erhöhen, wie sie in ihrem jetzt veröffentlichten Frühjahrsgutachten schreiben. Die Ökonomen appellieren an die Bundesregierung, eine "behutsame" Reform der Schuldenbremse, basierend auf dem Vorschlag der Deutschen Bundesbank, vorzunehmen, um mehr schuldenfinanzierte Investitionen zu ermöglichen. Allerdings sei dies "kein Allheilmittel", vielmehr müssten die strukturellen Probleme in Deutschland insgesamt angegangen werden.

Die Institute erwarten nur noch einen Anstieg des Bruttoinlandsproduktes (BIP) um 0,1 (Herbstgutachten: +1,3) Prozent für das laufende und 1,4 (+1,5) Prozent Wachstum für das kommende Jahr. Die Institute attestieren Deutschland "eine bis zuletzt zähe konjunkturelle Schwächephase mit schwindenden Wachstumskräften". Im laufenden Jahr avanciere der private Konsum zur wichtigsten Triebkraft für die Konjunktur. Im kommenden Jahr werde dann vermehrt auch das Auslandsgeschäft diese Rolle übernehmen.

Die deutliche Abwärtskorrektur für die Prognose in diesem Jahr ist zum großen Teil der schwachen Industrie und Anzeichen für die Abwanderung von Produktionskapazitäten der energieintensiven Industrie ins Ausland geschuldet. Auch habe man bei der vorherigen Prognose im Herbst nicht mit so einem hohen Krankenstand für diesen Winter gerechnet, so die Institute.

"In der lahmenden gesamtwirtschaftlichen Entwicklung überlagern sich konjunkturelle und strukturelle Faktoren. Zwar dürfte ab dem Frühjahr eine Erholung einsetzen, die Dynamik wird aber insgesamt nicht allzu groß ausfallen", erklärten die Institute.

Der Konjunkturchef am Kiel Institut für Weltwirtschaft (IfW), Stefan Kooths, betonte, dass Deutschland bislang von einem Dreiklang aus lahmender Konjunktur, lähmender Politik und leidendem Wachstum geprägt sei. Nun ändere sich "nur die konjunkturelle Tonlage von Moll auf Dur", so Kooths.


   Inflationsrate sinkt wegen dämpfender Effekte der Energiepreise 

Die Inflationsrate dürfte nach Ansicht der Ökonomen aufgrund des dämpfenden Effekts der Energiepreise weiter zurückgehen - von 5,9 Prozent im vergangenen Jahr auf 2,3 (2,6) Prozent in diesem Jahr und 1,8 (1,9) Prozent in 2025. Die Kerninflationsrate sehen die Institute in diesem Jahr bei 2,8 Prozent und 2025 bei 2,3 Prozent.

Die Effektivverdienste werden der Prognose zufolge in den Jahren 2024 und 2025 um 4,6 bzw. 3,4 Prozent zulegen. Damit nehmen die Reallöhne über den gesamten Prognosezeitraum zu und holen die Verluste aus dem Jahr 2022 und dem ersten Halbjahr 2023 langsam wieder auf, wies in dem Gutachten heißt. Das Niveau von Ende 2021 - also vor dem drastischen Inflationsschub - wird aber nach Einschätzung der Ökonomen voraussichtlich erst im zweiten Quartal 2025 erreicht.

Der robuste Arbeitsmarkt stütze die konsumbezogenen Auftriebskräfte in der deutschen Konjunktur. Zwar würden die realen Lohnstückkosten im Zuge der Lohnsteigerungen wieder deutlich zunehmen. "Sie bleiben aber beschäftigungsfreundlich", so die Einschätzung der Institute.

Insgesamt erwarten die Institute, dass die Zahl der Arbeitslosen von 2,61 auf 2,69 Millionen in diesem Jahr steigt, dann aber 2025 auf 2,58 Millionen zurückgeht. Die Arbeitslosenquote werde sich von 5,7 Prozent 2023 auf 5,8 Prozent im laufenden Jahr erhöhen und dann 2025 auf 5,5 Prozent zurückfallen.


   Behutsame Reform der Schuldenbremse notwendig 

Die gesamtstaatlichen Defizite werden der Prognose zufolge in diesem und kommenden Jahr deutlich sinken. Die Forscher plädierten für eine behutsame Reform der im Grundgesetz verankerten Schuldenbremse, um somit mehr Investitionen zu ermöglichen.

Die öffentlichen Haushalte werden laut Prognose in diesem Jahr ein Finanzierungsdefizit von 1,6 Prozent in Relation zum nominalen Bruttoinlandsprodukt erreichen, nach 2,1 Prozent im Vorjahr. Es dürfte im kommenden Jahr auf 1,2 Prozent fallen.

"Wirtschaftspolitisch empfehlen die Institute eine behutsame Reform der Schuldenbremse, basierend auf dem Vorschlag der Deutschen Bundesbank, der mehr schuldenfinanzierte Investitionen als bislang zulässt", heißt es in dem Gutachten. Die Ökonomen regten an, die Defizitbegrenzung nach einem Ziehen der Ausnahmeklausel nicht mehr abrupt, sondern stufenweise wieder scharf zu stellen.

Oliver Holtemöller vom Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH), betonte, dass Deutschland zur Verbesserung seiner Standortbedingungen auch andere Faktoren angehen muss. Daher sei die Schuldenbremse "kein Allheilmittel" zur Lösung von Deutschlands Problemen.

Wichtiger als die Reform der Schuldenbremse ist nach Ansicht der Ökonomen eine Neugestaltung der staatlichen Finanzverfassung, um kommunale Investitionstätigkeit - gut 40 Prozent der gesamten öffentlichen Investitionen - besser von konjunkturell bedingten Haushaltsnöten abzuschirmen, so die Institute in ihrem Gutachten.


   Wettkampf um qualifizierte Zuwanderer 

Die Ökonomen wiesen darauf hin, dass Deutschland angesichts seiner alternden Bevölkerung im internationalen Wettkampf um qualifizierte Arbeitskräfte aus dem Ausland stehe. Für diese müsse man die Bedingungen in Deutschland verbessern, denn die Talente dieser Welt kämen nicht nach Deutschland, um die Staatsfinanzen sanieren zu helfen, sondern weil sie sich eine Existenz aufbauen möchten. "Ohne deutlichen Zuwächse bei der qualifizierten Zuwanderung werden die Probleme hierzulande noch größer", sagte Kooths.

In Deutschland sei der Beschäftigungsaufbau seit Jahren maßgeblich der Zuwanderung von Ausländern zu verdanken. Allerdings sei insgesamt eine geringere Produktivität der Zuwanderer zu verzeichnen wegen deren geringerer Qualifikation, was besonders auch für die Flüchtlinge zutreffe.


   Brauchen "reinen Wein" bei der Rente 

Mit Blick auf die Finanzierung der gesetzlichen Rente müsse der Bevölkerung "reinen Wein" eingeschenkt werden, wie der Ökonom des Ifo-Instituts, Timo Wollmershäuser, forderte. Experten seien sich einig, dass die Finanzierung nicht nachhaltig sei und Deutschland sich auf ein späteres Renteneintrittsalter einstellen sollte.

An dem Gemeinschaftsgutachten wirken derzeit die deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), Ifo Institut, das Kiel Institut für Weltwirtschaft (IfW Kiel), das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) und das RWI - Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung (RWI) mit.

Kontakt zur Autorin: andrea.thomas@wsj.com

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March 27, 2024 07:18 ET (11:18 GMT)