Zürich, 05.01.2017 - Rede '500 Jahre Reformation' Bundesrat Johann N. Schneider-Ammann, Vorsteher des Eidgenössischen Departements für Wirtschaft, Bildung und Forschung Grossmünster Zürich, 5. Januar 2017

Es gilt das gesprochene Wort!

Meine Damen und Herren,

Die Reformation wird oft als einer der Grundbausteine unserer modernen Wirtschaftsordnung dargestellt. Ohne Luther, Zwingli oder Calvin, - um nur die für die Schweiz drei wichtigsten Reformatoren zu nennen - wäre unser heutiges Wirtschaftssystem, und - unsere Entwicklung, ja unser ganzer Reichtum in dem wir heute leben, gar nicht vorstellbar gewesen. So wird jedenfalls vielerorts argumentiert.

Stimmt das denn auch? Denn wenn man genau hinsieht, beginnt die Reformation mit einer Zerstörung. Um es noch genauer auszudrücken: mit einer Marktzerstörung.

Mit seinen 95 Thesen, die der 33 jährige Augustiner-Mönch und Theologie Professor, Martin Luther - gemäss der Überlieferung - am 31 Oktober 1517 an die Tore der Kirche von Wittenberg nagelt, greift er einen Markt an. Den Ablass-Markt.

Glaubwürdigkeit ist das Fundament jedes Marktes. Darauf zielt auch Martin Luthers Angriff. So wetterte er in These 27: - und ich Zitiere: 'Lug und Trug predigen diejenigen, die sagen, die Seele erhebe sich aus dem Fegfeuer, sobald die Münze klingelnd in den Kasten fällt.' Ende Zitat.

Nicht von ungefähr kürte der Spiegel ihn kürzlich zum 'ersten Wutbürger' der Geschichte.

Denn sein Pfeil sass. Der Ablassmarkt brach innert kürzester Zeit zusammen. Der Papst Leo der Zehnte und der Erzbischof Albrecht von Mainz, die ihre Schulden so refinanzieren wollten, hatten das Nachsehen.

Daher meine Frage: wie wurde aus einer Protestaktion gegen die damaligen wirtschaftlichen Verhältnisse und Praktiken, die Grundlage einer neuen, dynamischen Wirtschaftsordnung? Diese Frage beschäftigt mich. Als ehemaliger Chef eines Familienunternehmens. Als Bundesrat, verantwortlich für den wirtschaftlichen Wohlstand der Schweiz. Aber auch als Protestant und Mensch.

Es wäre sicher absolut falsch Martin Luther, Huldrych Zwingli oder Jean Calvin als erste Kapitalisten anzusehen. Ihnen ging es sicher nicht um materielle Werte. Ihnen ging es um grösseres, wichtigeres. Es ging ihnen um das Heil des Menschen. Darauf war ihr ganzes Denken und Handeln gerichtet.

Zudem ist Kapitalismus eigentlich viel älter als die Reformation. Man braucht nicht unbedingt in die Römische Antike zurückzukehren, um sich das vor Augen zu führen. Auch im Mittelalter gab es trotz Ächtung des Reichtums durch den Christianismus, - 'die Ersten werden die Letzten sein' - immer wieder Unternehmer und Händler.

Aber im Spätmittelalter und in der anbrechenden Renaissance wird der Finanzkapitalismus neu erfunden. Norditalien wird der Finanzplatz Europas par excellence. Die Medici - Leo der Zehnte war übrigens ein Medici - und die Fugger - die Gläubiger des Erzbischofs von Mainz - waren schon lange vor Luthers Erstürmung der Weltbühne, mächtige Handels- und Bankiersfamilien.

Der alte Adels- und Ritterstand wurde von diesen 'Neureichen' langsam zurückgedrängt. Denn nur sie konnten die modernen, hochtechnischen Söldnerheere und Schusswaffenmanufakturen finanzieren, die die mächtigsten Fürsten brauchten, um überhaupt weiter bestehen zu können.

So wurden die sozialen Grundfesten der alten mittelalterlichen Gesellschaftsordnung erodiert. Die Kirche, als ideologischer Garant dieser Ordnung, wurde dabei natürlich auch in Mitleidenschaft gezogen.

Die Intellektuelle Welt war sowieso schon in Bewegung gekommen. Die Entdeckung 1492 der neuen Welt durch Christopher Kolumbus, hatte das alte Weltbild buchstäblich ins Wanken gebracht. Der Fall von Konstantinopel 1496 und die griechische Emigration nach Italien, hat der westlichen Welt die griechische Antike und Philosophie von neuem eröffnet. Es brodelte in den Köpfen. Und in den Seelen.

Und dank der Erfindung der Druckpresse mit beweglichen Lettern wurde dieses Brodeln auch noch über ganz Europa verbreitet. Die erste Globalisierung war schon im Gange.

Wenn die Grundfesten der alten westlichen Welt schon am Bröckeln waren. Wenn sich schon über den Weltmeeren neue Horizonte auftaten und die Unternehmenslustigen herausforderten. Wenn sich per Druckpresse schon neue Anschauungen und Ideen verselbstständigten. Wenn eine neue Wirtschaftsordnung schon dabei war die alte Gesellschaftsordnung umzuwandeln, brauchte es dann noch die Reformation damit die neue Welt entstehen konnte?

Ja, doch.

Denn die Kirche beanspruchte weiterhin für sich alleine zu bestimmen, was die Christen zu glauben hatten. Und zu kaufen. Nämlich Ablässe. Und das wurde ihr zum Verhängnis.

Denn die Ablässe wurden jedem gläubigen Christen aufgeschwatzt, wenn nicht aufgezwungen. Damit war auch jeder betroffen. Und dann kam Luther und erfand das Gewissen. Oder besser gesagt, er entdeckte es wieder. Bei seinem Ordensvater, dem Heiligen St Augustinus. Der Autor der 'Bekenntnisse', dieser ersten 'modernen' Autobiografie, hat auf jeder Seite regelrecht mit seinem Gewissen gerungen. Und wider allen möglichen Autoritäten sein eigenen Weg bestimmt. So auch Luther.

Seine 95 Thesen waren ein Aufschrei seines Gewissens gegen das Treiben der Kirche. Der apokryphe Seufzer nach seiner Anhörung vor dem Reichstag in Worms: 'Hier stehe ich und kann nicht anders', ist die sensationelle Verkürzung dieses wiederentdeckten Lebensgefühls: ein von kirchlichen und weltlichen Autoritäten unabhängiges Gewissen.

Gerade die explosionsartige Geschwindigkeit mit denen die Ideen Luthers sich verbreiteten und Nachahmung fanden, zeigte welch ein gewaltiger Gärprozess in Europa im Gange war.

Dazu kam natürlich auch, dass Luther ein überordentlich begabter Kommunikator war, der die neuste Technologie, die Druckerpresse, zu nutzen wusste und dazu noch, ganz nebenbei, die moderne deutsche Sprache erfand. Das Flugblatt wurde sein Twitterkanal. Die Gesamtauflage seiner 287 Flugschriften, die zwischen 1517 und 1525 erschienen, wird auf zwei Millionen geschätzt.

So macht sich ein neues Verhältnis des Menschen zur seiner Umwelt breit. Das Gewissen, erforscht durch Selbsterkenntnis, begründet eine neue Selbstverantwortung und treibt durch Selbstdisziplin auch zur Selbstverwirklichung an. Der Individualismus hat seine Grundpfeiler gefunden. Mit ihm entstand ein neuer Wissensdurst, der wiederum Innovation ermöglichte. Es wurde zum Zündstoff unserer Freiheit und Wohlstandes.

Mit der Zerstörung der Ablassmarktes und seiner Bürokratie wurden auch immense finanzielle Mittel frei, die neue Betätigungsfelder brauchten. Zuerst finanzierten sie zwar die unerbittlichen Religionskriege. Aber später konnten sie dann doch noch produktiveren Tätigkeiten zugeleitet werden.

Auch die katholische Kirche wurde in den Bann der neuen protestantischen Moral gezogen. Denn um die Reformation zu bekämpfen, musste sie grosse Teile der neuen Mentalität selber übernehmen. Am deutlichsten war das bei den Jesuiten ablesbar. Sie fassen sich als Soldaten Christus und der Gegenreform auf und übernehmen vom Feind Wissensdurst und Selbstdisziplin. Sie werden als talentierte Pädagogen ganze Generationen von intellektuell anspruchsvollen und unternehmenslustigen Katholiken erziehen, die auch in der Wirtschaft viel erreichen werden.

Für Luther, Zwingli und Calvin und alle anderen Reformatoren sind das aber alles ungewollte Konsequenzen. Ihr eigentliches Ziel war, die administrativen Wege zu kürzen und den Menschen unmittelbarer an Gott zu bringen.

Wir stehen heute wieder mitten in einem Globalisierungsschub, der dem der Renaissance und Reformation in nichts nachsteht. Mit dem Internet findet eine noch lange nicht zu Ende kommende Kommunikationsrevolution statt, die mit der Erfindung der Druckerpresse gleichgestellt werden kann. Neue Technologien und neue Möglichkeiten stellen uns vor grösste Herausforderungen. Wohin sie uns führen werden, ist noch nicht absehbar.

Deshalb sind viele Menschen heute genauso verunsichert wie Luthers Zeitgenossen es waren. Viele sehnen sich in eine stabilere, besser überschaubare, besser geordnete Welt zurück. Früher war noch alles im Lot, glauben sie. Dabei geben sie ihre Stimmen meist rückwärtsgewandten Kräften, die ihnen die Wiederkehr einer vermeintlich heilen Welt versprechen. Diese propagieren aber oft Ideen und Überzeugungen, die sich mit den neuen Werten der Reformation beissen: Obskurantismus, Technologie- und Wissenschaftspessimismus und Antiliberalismus sind wieder en Vogue.

Wollen wir wirklich wieder zurück? In eine mittelalterlich anmutende Welt? Soll das Selbererfahren, Selberdenken, Selbererbauen wieder durch irgendeine höhere Autorität ersetzt werden? Gerade dann, wenn man sein Heil von irgendeinem providentiellen Führer erwartet, passieren die gravierendsten Fehler.

Nichts ersetzt die plurale Verantwortung für unsere gemeinsame Zukunft und unser gemeinsames Wohl. Nur durch die Verbindung aller unserer Talente werden wir den Weg in dieser schwierigen Zeit finden können. Die erste Globalisierung und die Reformation hat uns viel gegeben, was unsere Zeit auf diesem Planeten lebenswerter und intensiver macht. Wir sollten uns hüten, unter dem Druck des heutigen Umbruchs und der Verunsicherung, die sie mit sich bringt, diese Errungenschaften des menschlichen Geistes einfach zu verschenken.

Lassen sie mich zum Schluss kommen und zusammenfassen.

Erstens. Luther, Calvin und Zwingli haben den Kapitalismus nicht erfunden. Sie hatten grösseres im Sinn: Sie wollten den Menschen unmittelbarer zu Gott bringen. Dabei haben sie auf das menschliche Gewissen gebaut. Der Mensch alleine vor Gott musste und durfte entscheiden.

Zweitens. Damit begründeten sie den modernen Individualismus, der sich in der ganze Gesellschaft verbreitete. Das schuf die Voraussetzung, dass jeder im neuen, - schon aufstrebenden Wirtschaftssystem -, teilhaben konnte ohne sich schon im Voraus verurteilt zu fühlen. Jeder rechnete von nun an direkt mit sich selber und Gott ab.

Drittens. Die individuelle Verantwortung bleibt eine Bürde. Man kann versuchen sie im Hedonismus ertränken. Man kann sie wieder an vermeintlich höhere Autoritäten veräussern, dem Liberalismus und der Demokratie entsagen. In Zeiten des Umbruchs wie wir sie heute erleben, das heisst in Zeiten höchster Verantwortung -, sind das echte
und gefährliche Verlockungen, die wieder vielerorts auf der Welt allzu attraktiv sind.

Als liberaler Politiker, Unternehmer und Mensch, tief verbunden mit der protestantischen Lebensweisheit, bleibe ich aber voll überzeugt, dass unsere direktdemokratische und liberale Gesellschaftsordnung alle Voraussetzungen geschaffen hat, um diesen Versuchungen widerstehen zu können.

Und dass unsere offene Gesellschaft, wie sie von Luther, Calvin und Zwingli unbewusst mitbegründet worden ist, immer noch der bessere Weg ist, um allen möglichen Herausforderungen zu begegnen. Das hat uns die Reformation geschenkt und das müssen wir zusammen bewahren.

Ich danke Ihnen für ihre Aufmerksamkeit.

Adresse für Rückfragen

Kommunikationsdienst GS-WBF
Bundeshaus Ost
3003 Bern
Schweiz
Tel. +41584622007

Herausgeber

Eidgenössisches Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung
http://www.wbf.admin.ch

EAER - Federal Department of Economic Affairs, Education and Research of the Swiss Confederation veröffentlichte diesen Inhalt am 05 January 2017 und ist allein verantwortlich für die darin enthaltenen Informationen.
Unverändert und nicht überarbeitet weiter verbreitet am 05 January 2017 16:44:08 UTC.

Originaldokumenthttps://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-65057.html

Public permalinkhttp://www.publicnow.com/view/CDFBAD532B582188D16BCB1C6C307C78BF4FA6CA