Berlin (Reuters) - Nach Einschätzung des Bundesnachrichtendienstes ist es offen, ob Russland die Ukraine angreifen wird oder nicht.

"Ich glaube, dass die Entscheidung über einen Angriff noch nicht gefallen ist", sagte der Präsident des deutschen Auslandsgeheimdienstes, Bruno Kahl, der Nachrichtenagentur Reuters in einem am Freitag veröffentlichten Interview. Nun müsse man sehen, ob in den angestoßenen diplomatischen Gesprächen etwas gefunden werde, was auf den Forderungskatalog des russischen Präsidenten Wladimir Putin eingehe. "Das ist angesichts seiner weitgehenden Forderungen ein ziemliches Kunststück. Wir glauben aber auch, dass er durchaus bereit wäre, seine Drohkulisse umzusetzen", betonte Kahl in einem seiner seltenen Interviews mit Blick auf den russischen Truppenaufmarsch vor der Grenze zur Ukraine.

Im Falle einer Eskalation sei völlig unsicher, wie Russland vorgehen könne. "Die Krise kann sich in tausenden Varianten entwickeln", sagte der BND-Präsident. "Das können hybride Maßnahmen sein, um die Regierung in Kiew zu destabilisieren. Es kann die Unterstützung von Separatisten im Osten sein, um dort die Demarkationslinie ein bisschen nach vorne zu schieben, oder die Provokation eines Regime-Change in Kiew." Allerdings verwies Kahl auf die Stimmung in der ukrainischen Bevölkerung. "Die Stimmung in der Bevölkerung hat sich in den vergangenen Jahren deutlicher gegen Russland gewendet."

Zur Frage, ob und welche Sanktionen gegen Russland im Falle eines Angriffs ergriffen werden sollten, wollte sich Kahl nicht äußern. Er unterstützte den Ansatz der Bundesregierung, alle Sanktionsmöglichkeiten auf dem Tisch zu packen, Putin aber über konkrete Schritte weitgehend im Unklaren zu lassen. "Als Prinzip ist es sicher besser, nicht ausrechenbar zu bleiben", sagte der BND-Chef. "Es ist immer von Vorteil, das macht Putin ja auch."

BND-CHEF - SPANNUNGEN STABILISIEREN PUTIN

Der Chef des deutschen Auslandsgeheimdienstes sieht mehrere Gründe für das Vorgehen Russlands. "Putin will Russland nicht als Regionalmacht, sondern als Weltmacht wahrgenommen sehen", sagte er. "Putin handelt nach einer Logik, auch wenn diese nicht unsere ist." Der russische Präsident folge dabei dem alten klassischen Großmacht-Denken. Seine Motivation sei neben dem Wunsch nach Anerkennung etwa durch die USA aber auch eine innenpolitische: "Nationalistische Außenpolitik dient so als Mittel für Legitimität. Und das hat in Russland immer gezogen." Der Jubel sei groß gewesen, als Putin 2014 die Halbinsel Krim annektiert habe. Die Wiederherstellung alter russischer Größe in Europa sei ein Motiv für Putin, um innenpolitische Zustimmung zu erreichen. "Dafür ist er bereit, viel in Kauf zu nehmen."

Putin wolle Konflikte am Köcheln halten, um als Problemlöser gefordert zu sein. "Er will gefragt bleiben. Das ist, glaube ich, ein Hauptmotiv", sagte Kahl. Diese Art von Politik funktioniere aber nur in der Fortsetzung von Spannungen. Andererseits wäre Entspannung die Voraussetzung wirtschaftlichen Erfolges. "Aber das gefährdet wiederum das System. Putin ist deshalb eher daran interessiert, die Spannung zu erhalten, weil sie ihn stabilisiert."

Der BND-Präsident widersprach zudem Warnungen, der Westen könne mit einem entschlossenen Kurs eine Annäherung Moskaus an Peking forcieren. "An eine dauerhafte Allianz Russland und China glaube ich nicht. Es geht viel um Inszenierung", sagte Kahl. Die Interessen beider Länder seien jedenfalls zu unterschiedlich. "Auf Dauer wird sich der russische Bär in den Armen des chinesischen Drachen nicht wohlfühlen."