- von Jörn Poltz

München (Reuters) - Wirecard-Chef Markus Braun und seine Führungsriege haben nach Auffassung der Münchner Staatsanwaltschaft über Jahre hinweg die Bilanzen des einstigen Börsenlieblings gefälscht und dazu milliardenschwere Scheingeschäfte erfunden.

Braun habe sich mit anderen Spitzenmanagern zu einer "Bande" zusammengeschlossen, um das Bild eines erfolgreichen Finanztechnologie-Konzerns vorzutäuschen, sagte Staatsanwalt Matthias Bühring am Donnerstag zum Prozessauftakt vor dem Landgericht München. In Wirklichkeit habe Wirecard Verluste geschrieben und Kredite gebraucht, "um den Kollaps des Unternehmens zu verhindern". Mit den frisierten Geschäftszahlen sollte zudem der Kurs der Aktie in die Höhe getrieben werden.

Mit der Verlesung der Anklage hat zweieinhalb Jahre nach der spektakulären Pleite des Zahlungsdienstleisters der Strafprozess gegen den ehemaligen Vorstandschef Braun vor dem Landgericht München begonnen. Damit soll einer der größten Finanzskandale der deutschen Geschichte juristisch aufgearbeitet werden. Auf der Anklagebank sitzen neben Braun der frühere Statthalter von Wirecard in Dubai, Oliver Bellenhaus, und Chefbuchhalter Stephan von Erffa. Die Staatsanwaltschaft wirft den Angeklagten Bilanzfälschung, Marktmanipulation, Untreue und gewerbsmäßigen Bandenbetrug vor. Bellenhaus gilt als Kronzeuge.

Kurz vor Verhandlungsbeginn betrat der 53-jährige Braun Münchens größten Gerichtssaal durch eine Seitentür aus dem angrenzenden Gefängnis. Schweigend nahm er neben seinen vier Verteidigern auf der Anklagebank Platz. Der Österreicher trug eine randlose Brille, einen dunklen Rollkragenpullover und einen dunklen Anzug. Genauso hatte er als Vorstandschef oft Zahlen und Strategie seines Unternehmens präsentiert. Es war Brauns erster öffentlicher Auftritt seit gut zwei Jahren. Braun kam nach dem Zusammenbruch von Wirecard im Sommer 2020 in Untersuchungshaft. Im November 2020 wurde er im Wirecard-Untersuchungsausschuss des Bundestags als Zeuge befragt.

Trocken und konzentriert wie früher beantwortete Braun zu Prozessbeginn die Fragen des Vorsitzenden Richters Markus Födisch zu seiner Person: "Das ist richtig", "Ja", "Auch das stimmt". Die Verlesung der Anklage, die mehrere Stunden dauerte, verfolgte er mit ernstem Blick, einen Laptop vor sich. Immer wieder strich er sich mit der linken Hand über das Kinn und die Wangen, faltete die Hände und stützte sein Kinn darauf.

Die Anklageschrift umfasst mehrere hundert Seiten. Zehntausende Wirecard-Aktionäre hatten mit der Pleite Milliarden verloren. Von einst mehr als 20 Milliarden Euro Börsenwert blieb praktisch nichts übrig. Banken und andere Gläubiger blieben auf mehr als drei Milliarden Euro an Forderungen sitzen. Staatsanwalt Bühring sagte, die Bande um Braun habe das Ziel gehabt, mit erfundenen Einnahmen die Bilanz und den Umsatz von Wirecard aufzublähen. Wirecard hatte sich als Gewinner des Onlinehandels präsentiert und jahrelang boomende Geschäfte mit der Abwicklung von Internet-Zahlungen ausgewiesen. Das gefeierte Unternehmen aus dem Münchner Vorort Aschheim brach zusammen, als aufflog, dass 1,9 Milliarden Euro in der Kasse fehlten.

Nach Darstellung der Staatsanwaltschaft haben Braun und seine Komplizen ihre Scheingeschäfte jahrelang vertuscht. Dazu habe Wirecard angebliche Zahlungsdienstleistungen für Anbieter von Pornographie und Glücksspiel an Drittpartner ausgelagert. Tatsächlich habe das Geschäft mit diesen "Third Party Acquirers" (TPA) nie existiert. Konten mit Erlösen daraus seien fingiert worden. "Mit dieser Vereinbarung legten die Bandenmitglieder das Fundament für die (...) ersonnenen, geplanten und ausgeführten Straftaten der unrichtigen Darstellung, der Marktmanipulation, des gewerbsmäßigen Bandenbetruges und der Untreue", sagte Bühring. Das Trugbild habe auch dazu gedient, Gelder aus dem Unternehmen zu schleusen.

ZENTRALE FIGUR IST UNTERGETAUCHT

Zu der Bande zählt Bühring neben den drei Angeklagten auch die früheren Vorstandsmitglieder Jan Marsalek und Burkhard Ley sowie externe Geschäftspartner. Marsalek, der für das Asien-Geschäft zuständig war, ist untergetaucht und wird in Russland vermutet. Ihm vor allem sei der Kontakt zu den angeblichen TPA-Partnern vorbehalten gewesen. So sei es gelungen, "eine effektive interne Kontrolle der tatsächlichen Vorgänge auszuschalten". Gegen Ex-Finanzvorstand Ley wird noch ermittelt, er bestreitet eine Tatbeteiligung. Von Erffa schweigt bisher zu den Anschuldigungen. Bellenhaus hat angekündigt, er werde Verantwortung übernehmen.

Als Statthalter von Wirecard in Dubai in den Vereinigten Arabischen Emiraten habe Bellenhaus eine der drei angeblichen Partnerfirmen selbst gesteuert, sagte Staatsanwalt Bühring. Er habe regelmäßig Abrechnungen und Saldenbestätigungen bei Chefbuchhalter von Erffa eingereicht. Die Zahlen habe er gefälscht und sich dabei an den Finanzzielen von Vorstandschef Braun orientiert. Bei von Erffa habe er sich dazu regelmäßig rückversichert.

"KONTOAUSZUG BIS 31. NOVEMBER"

Zumindest in Details waren Fälschungen bei genauem Hinsehen sogar offensichtlich: In einer der Kontounterlagen hatte laut Staatsanwaltschaft der November 2016 insgesamt 31 Tage. Der Kontoauszug, den Bellenhaus im Jahr 2017 an von Erffa weitergeleitet habe und den dieser bestätigt habe, "zeigte als abgebildeten Zeitraum die Zeit vom 01.11.2016 bis zum 31.11.2016", sagte Bühring. "Beiden Angeklagten war bewusst, dass der Kontoauszug eine Fälschung darstellte, die nur dem Zweck dienen sollte, gegenüber den Konzernabschlussprüfern ein echtes Konto und echte Forderungen zu belegen."

Nach der Verlesung der Anklage ist eine erste Stellungnahme von Brauns Verteidiger Alfred Dierlamm vorgesehen - ob es noch am Donnerstag dazu kommt, war zunächst unklar. Ein Urteil wird frühestens im übernächsten Jahr erwartet.

(Bericht von Jörn Poltz, geschrieben von Alexander Hübner,; redigiert von Sabine Wollrab. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com (für Politik und Konjunktur) oder frankfurt.newsroom@thomsonreuters.com (für Unternehmen und Märkte).)