Von David Uberti

AMSTERDAM (Dow Jones)--Ein großer Gewinner der Energiekrise in Europa ist die US-Wirtschaft. Unternehmen in Europa, die Stahl, Düngemittel und andere Grundstoffe für die Wirtschaft herstellen, verlagern mehr und mehr ihre Betriebe in die USA, da sie dort von den stabileren Energiepreisen und der massiven staatlichen Unterstützung profitieren. Wilde Schwankungen bei den Energiepreisen und anhaltende Probleme in der Versorgungskette bedrohen Europa mit einer neuen Ära der Deindustrialisierung.

Derweil hat Washington eine Reihe von Anreizen für das verarbeitende Gewerbe und grüne Energie vorgestellt. Das Ergebnis ist ein Spielfeld, das sich zunehmend zu Gunsten der USA neigt, sagen Führungskräfte, insbesondere für Unternehmen, die auf Projekte zur Herstellung von Chemikalien, Batterien und anderen energieintensiven Produkten setzen.

"Es liegt auf der Hand, dies in den USA zu tun", konstatiert Ahmed El-Hoshy, Chef des in Amsterdam ansässigen Chemieunternehmens OCI, das in diesem Monat die Erweiterung einer Ammoniakanlage in Texas ankündigte.

Während die US-Wirtschaft mit einer Rekordinflation, Engpässen in der Versorgungskette und Befürchtungen einer Verlangsamung konfrontiert ist, hat sie nach Ansicht von Analysten die Pandemie relativ gut überstanden.

Zugleich verhängt China weiterhin Covid-Sperren und Europa ist kräftig durch den Krieg in der Ukraine destabilisiert. Neue Ausgaben Washingtons für Infrastruktur, Mikrochips und grüne Energieprojekte haben die Attraktivität der USA für Unternehmen erhöht.


Noch können europäische Konzerne hohe Energiepreise überwälzen 

Das dänische Schmuckunternehmen Pandora und der Wolfsburger Autokonzern Volkswagen kündigten zu Beginn dieses Jahres Expansionen in den USA an. Zuletzt berichtete das "Wall Street Journal", dass Tesla seine Pläne zur Herstellung von Batteriezellen in Deutschland pausiert, um sich für Steuergutschriften im Rahmen des von US-Präsident Joe Biden unterzeichneten "Inflation Reduction"-Gesetz zu qualifizieren.

Europa ist nach Ansicht von Analysten und Investoren nach wie vor ein begehrter Markt für die fortschrittliche Fertigung und verfügt über qualifizierte Arbeitskräfte in der Industrie. Wegen des Nachholbedarfs durch die Pandemie haben zudem viele Unternehmen, die in den vergangenen Monaten ausufernde Energiepreise zu beklagen hatten, diese an ihre Kunden überwälzen können. Die Frage lautet, wie lange die höheren Erdgaspreise anhalten.


Schwieriger Ersatz für russisches Gas 

Einige Ökonomen warnen davor, dass es den Erdgasproduzenten von Kanada über die USA bis Katar schwerfallen könnte, Russland mittelfristig vollständig als Lieferant für Europa zu ersetzen. Sollte dies der Fall sein, könnte der Kontinent bis ins Jahr 2024 mit hohen Gaspreisen konfrontiert sein, was wohl zu einer dauerhaften Beeinträchtigung des europäischen Produktionssektors führte.

"Ich denke, wir werden zwei Winter überstehen", meint Stefan Borgas, Chef von RHI Magnesita. Wenn es dem Kontinent nicht gelänge, billigeres Gas zu finden oder erneuerbare Energien zu fördern, würden sich die Unternehmen aber anderswo umsehen, fügt er hinzu.

Das österreichische Unternehmen, das Materialien herstellt, die etwa in der Stahlindustrie verwendet werden, um großer Hitze standzuhalten, investiert rund 8 Millionen Euro in seine europäischen Anlagen. Damit sollen bestimmte Prozesse mit alternativen Brennstoffen wie Kohle oder Öl ablaufen. Außerdem lagert das Unternehmen Erdgas in einer gemieteten unterirdischen Anlage, die früher der vom Kreml kontrollierten Gazprom gehörte und von der österreichischen Regierung beschlagnahmt wurde.


"Sehr, sehr positiv den USA gegenüber eingestellt" 

Borgas ist optimistisch, was die Stahlnachfrage in den USA angeht, wo Anreize auch die Aussichten für grüne Energie verbessert haben. Hersteller wie RHI Magnesita sehen Wasserstoff als Schlüssel zum Ersatz fossiler Brennstoffe und zur Reduzierung von Emissionen in Anlagen in Europa, den USA und anderswo. Es wird erwartet, dass die von Washington versprochenen Ausgaben für solche Projekte die Produktion von Wasserstoff ankurbeln und schließlich seinen Preis senken.

"Wir erhöhen unsere Investitionen in den USA auch, um mit allen unseren Partnern, die investieren, Schritt zu halten", erläutert Borgas weiter. "Wir sind sehr, sehr positiv gegenüber den USA eingestellt."

Das luxemburgische Unternehmen Arcelormittal, das in diesem Monat angekündigt hatte, die Produktion in zwei deutschen Werken zu drosseln, meldete eine besser als erwartete Leistung durch eine Investition in diesem Jahr in einer texanischen Anlage. Diese produziert heißes brikettiertes Eisen, einen Rohstoff für die Stahlproduktion.


Wettbewerbsfähige Energie als Standortfaktor 

In einer Telefonkonferenz im Juli führte der Vorstandsvorsitzende Aditya Mittal den Wert der Anlage zum Teil darauf zurück, dass sie in einer Region angesiedelt ist, die "äußerst wettbewerbsfähige Energie und letztlich auch wettbewerbsfähigen Wasserstoff bietet". Und Mittal fuhr fort: "Ich möchte noch hinzufügen, dass wir auch 100 Prozent der zukünftigen Erweiterungen dieser Anlage besitzen."

Viele Unternehmen halten sich mit einer Änderung ihrer Strategie zurück, da der Bau von Projekten wie Aluminiumhütten, die Milliarden kosten und Jahre dauern können, schwierig ist.

"Es bleibt abzuwarten, ob es sich um eine strukturelle Veränderung oder um eine vorübergehende handelt", merkt eine BASF-Sprecherin an. Der Konzern ist einer der größten Abnehmer von Erdgas in Europa, der die Produktion in belgischen und deutschen Anlagen gekürzt hat.

OCI, das seine europäische Ammoniakproduktion gedrosselt hat, hat stattdessen die Importe in seine Anlage im niederländischen Hafen Rotterdam ausgebaut.


Anlagen in Texas sind sehr gefragt 

Um solche Lieferungen zu erleichtern, erweitert OCI seine Anlage in Beaumont, Texas, mit einer Investition in Höhe eines "hohen dreistelligen Millionenbetrages", so El-Hoshy. In der neuen Anlage wird OCI Ammoniak aus so genanntem blauem Wasserstoff herstellen, der auf Erdgas basiert, und anschließend das bei diesem Prozess entstehende Kohlendioxid abscheiden.

El-Hoshy erläutert, dass das "Inflation Reduction"-Gesetz das Geschäft attraktiver mache, da es Gutschriften für die Speicherung solcher Emissionen anbiete. "Das, zusammen mit den Ereignissen in Russland, sind zwei Gründe, die dafür sprechen, dass man mit der Zeit vielleicht kein Erdgas in Europa verbrauchen sollte."

Europäische Hersteller könnten es schwer haben, ohne die niedrigeren Energiepreise oder die grünen Anreize, die derzeit in den USA angeboten werden, wettbewerbsfähig zu bleiben, klagt Svein Tore Holsether, Chef des norwegischen Düngemittelriesen Yara International. "Einige Industrien werden infolgedessen ihren Standort dauerhaft verlagern."

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September 21, 2022 10:19 ET (14:19 GMT)