Von Anna Hirtenstein

LONDON (Dow Jones)--Europas meistbeachtete Rendite für Staatsanleihen ist zum ersten Mal seit 2019 ins Plus gedreht. Dies ist Teil einer allgemeinen Anpassung an die steigende Inflation und die Erholung der Weltwirtschaft von der Pandemie. Die Rendite zehnjähriger Bundesanleihen schob sich auf 0,008 Prozent vor, nachdem sie über 30 Monate lang im Minus notiert hatte. Im März 2020 hatte sie ihren Tiefpunkt bei minus 0,841 Prozent.

Die Renditen werden weltweit von den US-Anleiherenditen nach oben gezogen, da die Anleger mit einer beschleunigten Inflation und aggressiveren Zinserhöhungen durch die US-Notenbank Fed rechnen. So rentierte die entsprechende 10-jährige US-Staatsanleihe zuletzt mit 1,885 Prozent, wobei die Rendite in den vergangenen Wochen stetig hoch gegangen war, da die Preise für die Anleihen gefallen sind.

Zwischen Bundesanleihen, die als Indikator für den risikofreien Zinssatz in Europa gelten, und US-Staatsanleihen, die ebenso genau im Blick der Anleger als Benchmark sind, haben derzeit einen Renditeabstand von rund 1,87 Prozentpunkte.


   Höhere US-Zinsen setzen EZB unter Druck 

Die Europäische Zentralbank (EZB) hat signalisiert, dass sie einen Teil ihrer Anleihekäufe aus der Pandemiezeit zurückfahren wird, aber anders als die Fed hat sie sich nicht festgelegt, ihre Leitzinsen anzuheben, die bei minus 0,5 Prozent liegen.

Einige Marktteilnehmer sind der Meinung, dass die EZB angesichts der anhaltend hohen Inflation in der Region letztlich zur Fed aufschließen muss. "Die Bundesanleihen haben sich im Gleichschritt mit den US-Tresuries entwickelt, aber die EZB versucht, einen ganz anderen Weg für die Zinssätze vorzugeben als die Fed", moniert Sebastian Mackay, Fondsmanager bei Invesco. "Das ist der kritische Punkt. Sie behaupten, dass die Aussichten für die Inflation in Europa ganz andere sind."

Die EZB begann 2014 mit ihrer Negativzinspolitik und drückte damit die kurzfristigen Anleiherenditen unter null, wo sie bis heute verharren. Erst als das Wirtschaftswachstum 2016 schwächelte, erreichten die zehnjährigen Renditen und damit die längeren Laufzeiten erstmals den Minusbereich.

Die anhaltend negativen Zinsen spiegelten die flauen Aussichten für Europa wider. Viele befürchteten, dass die alternde Bevölkerung und die unbeweglichen Volkswirtschaften es schwierig machen würden, den langsamen Wachstumskurs zu überwinden.

Zusätzlich zu den Minuszinsen hat die EZB Anleihen in Multimilliardenhöhe gekauft, um das Wachstum anzukurbeln. Bis vor kurzem blieb die Inflation durchweg unter ihrem 2-Prozent-Ziel.


   Im Euroraum wie in den USA schießen die Preise hoch 

Im vergangenen Jahr änderte sich dann die Inflationsentwicklung. Die Verbraucherpreise in der Eurozone stiegen sprunghaft an, die Jahresinflation erreichte im Dezember 5 Prozent und damit ein Rekordhoch. Und die Märkte signalisieren die Erwartung, dass die EZB der Fed folgen und die Geldpolitik in den kommenden Monaten straffen muss, um der höheren Inflation zu begegnen.

Der Markt für Übernacht-Index-Swaps, ein Indikator für die Entwicklung der EZB-Leitzinsen, rechnet mit zwei Zinserhöhungen um 0,1 Prozentpunkte in diesem Jahr und drei bis vier weiteren Anhebungen 2023. Das würde das Ende der negativen Leitzinsen in der Eurozone im kommenden Jahr bedeuten.

Für Vermögensverwalter könnte der Meilenstein bei den Bundesanleihen dennoch große Auswirkungen auf ihre Investments haben. Durch die Konjunkturanreize zur Pandemie-Überwindung weitete sich das Gesamtvolumen der negativ rentierenden Staats- und Unternehmensschulden im Dezember 2020 weltweit auf über 18 Billionen US-Dollar aus.

Dieser Wert hat sich mittlerweile fast halbiert auf 9,3 Billionen Dollar gefallen. Positive Renditen für supersichere Staatsanleihen bedeuten, dass europäische Anleger nun wahrscheinlich mehr Anleihen im "Inland" kaufen. Das könnte die Nachfrage auf anderen Märkten, wie zum Beispiel bei US-Papieren, verringern, so Iain Stealey von JP Morgan Asset Management. Dies wiederum dürfte den Anstieg der Renditen von US-Staatsanleihen zusätzlich beschleunigen.


   Diversifizierungsvorteil für Anleger 

Andererseits würden insgesamt höhere Renditen auch bedeuten, dass die Anleihemärkte mehr Kapital anziehen, da die Anleger versuchen, sich risikoärmere Erträge zu sichern. Bei einer Rendite von 2 Prozent für zehnjährige Staatsanleihen "hat man einen Diversifizierungsvorteil, der Anleger für den Fall schützt, dass Aktien oder andere Vermögenswerte an Wert verlieren", so Stealey.

In der Zeit der Pandemie wurden Staatsanleihen von westeuropäischen Ländern wie Frankreich, den Niederlanden und Belgien mit einer Minusrendite gehandelt. Auch die zehnjährige portugiesische Anleihe rangierte unter null, obwohl das Land seit langem mit finanzieller Instabilität zu kämpfen hat.

Jetzt - nachdem die Rendite der deutschen Benchmark-Anleihe wieder die Nulllinie überschritten hat - werden alle zehnjährigen europäischen Staatsanleihen mit positiven Renditen gehandelt.

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January 19, 2022 10:15 ET (15:15 GMT)