--EZB-Direktorin betrachtet Inflationsrisiken "überwiegend aufwärts gerichtet"

--Bisherige Zinserhöhungen könnten weniger stark als erhofft wirken

--Inflationserwartungen drohen zu steigen

(NEU: Aussagen aus einer Rede Schnabels)

Von Hans Bentzien

FRANKFURT (Dow Jones)--Die Europäische Zentralbank (EZB) sollte nach Aussage von EZB-Direktorin Isabel Schnabel angesichts der aktuellen Unsicherheit über die Wirksamkeit ihrer bisherigen Maßnahmen und der Gefahr einer Entankerung der Inflationserwartungen ihre Zinsen im Zweifelsfall lieber einmal zu viel als einmal zu wenig anheben. Wie Schnabel in einer Konferenz der Euro50 Group laut veröffentlichtem Redetext sagte, betrachtet sie die Inflationsrisiken auch nach der Anhebung der Inflationsprognosen durch den volkswirtschaftlichen Stab der EZB als "überwiegend aufwärts gerichtet". Im geldpolitischen Statement der EZB von vergangener Woche spiegelt sich diese Einschätzung jedoch nicht.

"Wir müssen weiterhin in hohem Maße datenabhängig sein und lieber zu viel als zu wenig tun", sagte Schnabel. Die Risiken steigender Inflationserwartungen und einer schwächeren geldpolitischen Transmission bedeuten nach ihrer Aussage, dass die EZB Inflationsraten von über 2 Prozent nicht endlos tolerieren kann. "Wir müssen daher die Zinssätze so lange anheben, bis wir überzeugende Beweise dafür sehen, dass die Entwicklung der zugrunde liegenden Inflation mit einer nachhaltigen und zeitnahen Rückkehr der Gesamtinflation zu unserem mittelfristigen Ziel von 2 Prozent vereinbar ist", sagte sie.

Der EZB-Rat hatte in der vergangenen Woche beschlossen, die Zinsen um 25 Basispunkte anzuheben und sie auf ein "ausreichend restriktives Niveau" zu bringen, das einen rechtzeitigen Rückgang der Inflation auf 2 Prozent erlaubt. EZB-Präsidentin Christine Lagarde hat einen weiteren Zinsschritt im Juli mehr oder weniger angekündigt und EZB-Ratsmitglied Joachim Nagel weitere Schritte nach der Sommerpause für möglich erklärt. Zugleich hob der volkswirtschaftlichen Stab der EZB seien Inflationsprognosen für 2023 bis 2025 durchweg an.

Schnabel sieht aber die Gefahr, dass die EZB die Inflation immer noch unterschätzt und ihre Zinsen deshalb nicht entschlossen genug anhebt. Als einen Ausweg sieht sie, den Zinskurs an der derzeit hohen und nicht an der erwarteten niedrigen Inflation auszurichten. Eine zu späte Reaktion der EZB auf eine anhaltend hohe Inflation wäre letzten Endes teurer als ein rasche.

Vom folgenden Faktoren gehen Schnabel zufolge Inflationsrisiken aus:

1. Die Preise fossiler Energien könnten wegen des Übergangs zu einer kohlenstoffärmeren Wirtschaft und wegen des Ukraine-Kriegs steigen. Das Wetterphänomen El Nino tritt in diesem Jahr auf. Ein damit einhergehender Temperaturanstieg um 1 Grad könnte die Lebensmittelpreise 2024 weltweit um über 6 Prozent steigen lassen. Letztere könnten außerdem vom Bruch des Dnepr-Staudamms und dem Getreide-Deal für das Schwarze Meer beeinflusst werden.

2. Schnabel sieht das Risiko, dass die Produktionskapazität der Wirtschaft durch die Corona-Pandemie und den Überfall Russlands auf die Ukraine dauerhaft beeinträchtigt wird. So habe das Arbeitsvolumen noch nicht wieder das vorpandemische Niveau erreicht, in Deutschland seien im vergangenen Winter 8,5 Prozent der Krankenversicherten mit Atemwegserkrankungen krankgeschrieben gewesen.

Ein Problem ist Schnabel zufolge auch, dass die Unternehmen weniger investiert haben, als sie es ohne Pandemie getan hätten. Ursachen wie der Chip-Mangel seien inzwischen beseitigt, andere, wie etwa die erhöhte Unsicherheit wegen des Ukraine-Kriegs, könnte bleiben. Die EZB-Direktorin wies außerdem auf den deutlichen Rückgang der Pkw-Neuzulassungen hin. Das durchschnittliche Alter eines Autos im Euroraum sei von sieben bis acht auf zwölf Jahre gestiegen.

"Der Rückgang der Investitionen und der Anstieg der Beschäftigung, der erforderlich ist, um die Gesamtzahl der geleisteten Arbeitsstunden wiederherzustellen, wirkt sich tendenziell auf die Produktivität aus und erhöht somit die Grenzkosten der Unternehmen", sagte Schnabel. Im ersten Quartal sei die Arbeitsproduktivität gesunken.

3. Die gesamtwirtschaftliche Nachfrage könnte weniger als erwartet zurückgehen, womit Geld- und Fiskalpolitik zu wachstumsfreundlich wären. Die EZB müsste dann eine restriktivere Geldpolitik betreiben.

4. Die bisherigen Zinserhöhungen wirken möglicherweise nicht so stark wie beabsichtigt. Schnabel wies darauf hin, dass die Inflationserwartungen nicht genauso stark wie die Inflation zurückgegangen ist. Das könnte die Geldpolitik weniger wirkungsvoll machen. Der Anteil des Dienstleistungssektors an der Wirtschaft hat seit den 1970er Jahren von 40 auf 70 Prozent zugenommen. Er ist weitaus weniger zinssensitiv als die Industrie. Verbraucher haben mehr Kredite mit Festzins. Das macht sie unempfindlicher für höhere Zinsen. Schließlich: Die Beschäftigung ist auf einen Rekordhoch und die Arbeitslosigkeit rekordniedrig. Damit fällt der wichtigste Transmissionskanal der Geldpolitik aus.

"Ob sich eine Lohn-Preis-Spirale entfalten wird, hängt letztlich von der Fähigkeit und Bereitschaft der Unternehmen ab, höhere Lohnstückkosten in ihren Gewinnspannen aufzufangen. Dies wiederum hängt von dem wirtschaftlichen Umfeld ab, in dem die Unternehmen tätig sind, und damit von der Geldpolitik", sagte Schnabel.

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June 19, 2023 10:11 ET (14:11 GMT)