Peking/Taipeh (Reuters) - Trotz großer Konjunkturrisiken setzt sich China für 2024 ein ambitioniertes Wachstumsziel von rund fünf Prozent.

Der 2023 ins Amt gekommene Ministerpräsident Li Qiang räumte am Dienstag allerdings ein, dass dies nicht leicht zu erreichen sein werde. "Wir sollten die schlimmstmöglichen Szenarien nicht aus den Augen verlieren und auf alle Risiken und Herausforderungen gut vorbereitet sein", mahnte er vor dem Nationalen Volkskongress (NVK) - dem Scheinparlament der Volksrepublik. Der Internationale Währungsfonds (IWF) traut China dieses Jahr nur ein Wachstum von 4,6 Prozent zu. Zudem dürfte die Dynamik in den kommenden Jahren nachlassen. Dass China zugleich seinen Wehretat weiter aufstockt, sehen Experten vor dem Hintergrund der Spannungen mit Taiwan mit Sorge.

Die Verteidigungsausgaben sollen 2024 um 7,2 Prozent steigen, ähnlich wie bereits im Jahr 2023. Der Wehretat hat sich seit der Amtsübernahme von Präsident Xi Jinping vor mehr als einem Jahrzehnt verdoppelt. Aufhorchen lässt, dass in Lis Bericht vor dem Volkskongress die früher oft genutzte Formel einer "friedlichen Wiedervereinigung" mit Taiwan gestrichen wurde. China zeige, dass es sein Militär im kommenden Jahrzehnt so weit ausbauen wolle, dass es bereit sei, einen Krieg zu gewinnen, sagte der Verteidigungsexperte Li Mingjiang von der Rajaratnam School of International Studies. Taiwan forderte China unterdessen zu einem Dialog auf Augenhöhe und ohne Vorbedingungen mit der Inselrepublik auf.

Die Volksrepublik will zugleich auf ökonomischer Ebene weg vom Ruf, mit seinem Industriesektor die Werkbank der Welt zu sein und setzt verstärkt auf Binnenwirtschaft und Hochtechnologien. Auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos hatte Li sein Land als Impulsgeber für die globale Wirtschaft präsentiert und darauf verwiesen, dass es bereits rund 400.000 Hightech-Unternehmen in China gibt. Vor dem Volkskongress in Peking betonte er nun die Notwendigkeit, die Transformation des Wachstumsmodells voranzutreiben. Es gelte strukturelle Anpassungen vorzunehmen, die Qualität zu verbessern und die Leistung zu steigern. China will Beschränkungen für ausländische Investitionen im Fertigungssektor aufheben und auf dem Weg zu der angestrebten technologischen Autarkie Entwicklungspläne für Quantencomputer, Big Data und künstliche Intelligenz vorlegen.

Die Volksrepublik hat seit dem Ende der Corona-Eindämmungsmaßnahmen Ende 2022 Probleme, an die starke Konjunktur von vor der Pandemie anzuknüpfen. Sie übertraf zwar 2023 das offizielle Wachstumsziel von rund fünf Prozent mit einem erreichten Zuwachs beim Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 5,2 Prozent. Doch auf der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt nach den USA lastet die Immobilienkrise wie ein Stein. Die Preise für Neubauten verzeichneten im Jahr 2023 den stärksten Rückgang seit neun Jahren. Damit fällt der Bausektor als Wachstumstreiber aus, der lange Zeit den rasanten wirtschaftlichen Aufstieg des Schwellenlandes befeuerte.

Was den Immobiliensektor anbelangt, versprach Li, "gerechtfertigte" Projekte zu finanzieren und mehr Sozialwohnungen bereitzustellen. Dahinter steht die Absicht, einen Rückstau an unfertigen Immobilien zu beseitigen, der Hauskäufer im Reich der Mitte beunruhigt.

KEINE "BAZOOKA"

In China sind viele Regionalregierungen massiv verschuldet, die Unsummen in den Ausbau der Infrastruktur des Riesenreichs gepumpt haben. Hinzu kommt ein spezielles Problem in China wegen fallender Preise: Während bei einem Großteil der Industrieländer die hohe Inflation an der Kaufkraft der Verbraucher nagt, begünstigt die Deflation in der Volksrepublik die Konsumzurückhaltung und kann eine konjunkturell verheerende Abwärtsspirale in Gang setzen. Angesichts der Konjunkturrisiken hält Ökonom Bastian Hepperle von der Hauck Aufhäuser Lampe Privatbank das Wachstumsziel der kommunistischen Führung für ehrgeizig: "Zu erreichen ist das nur mit weiteren Stützmaßnahmen der Regierung und Zentralbank. Die grundsätzlichen Probleme wie die Immobilienkrise und die Risiken aus der hohen Verschuldung bleiben jedoch ungelöst", so die Einschätzung des Experten.

Es sei unwahrscheinlich, dass China angesichts von Haushaltszwängen nun in großem Stil Konjunkturhilfen aufsetze und so mit einer Art "Bazooka" das Wachstum befeuern werde, sagte Ökonom Tommy Xie von der OCBC Bank. "Das Streben nach Geschwindigkeit ist einem Wandel im Wachstumsmodell gewichen", sagte Hu Yuexiao, Chefökonom bei Shanghai Securities.

Die Regierung in Peking plant laut Lis Arbeitsbericht ein Haushaltsdefizit von drei Prozent der Wirtschaftsleistung gegenüber revidierten 3,8 Prozent im vergangenen Jahr. Zudem sollen in diesem Jahr mehr als zwölf Millionen Arbeitsplätze in den Städten geschaffen und die Arbeitslosenquote bei 5,5 Prozent gehalten werden.

(Bericht von By Yimou Lee, Eduardo Baptista, Yuhan Lin, Xu Jing, Ellen Zhang, Ella Cao, Ethan Wang, Joe Cash, Judy Hua, Albee Zhang, Qiaoyi Li, Laurie Chen, Yew Lun Tian, Liz Lee, Kevin Yao, Liangping Gao, Samuel Shen, Summer Zhen, Xie Yu und den Nachrichtenredaktionen in Peking und Shanghai. Geschrieben von Reinhard Becker. Redigiert von Ralf Bode. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com)

- von Antoni Slodkowski und Kevin Yao und Ellen Zhang