Von Andreas Kißler

BERLIN (Dow Jones)--Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) hat einen "großen Aufbruch" Deutschlands zur Erreichung der Klimaschutzziele gefordert. "Uns läuft die Zeit davon", warnte BDI-Präsident Siegfried Russwurm bei der Vorstellung eines "Wirtschaftsprogramms für Klima und Zukunft" auf Basis einer Studie des BDI und der Strategieberatung Boston Consulting Group (BCG). Der Umbau zur Klimaneutralität sei eine gesamtgesellschaftliche Mammutaufgabe und erfordere 860 Milliarden Euro Mehrinvestitionen bis 2030. Um die Klimaschutzziele bis 2045 zu erreichen, seien "Mehrinvestitionen in Billionenhöhe" nötig.

"Deutschland steht vor der größten Transformation in der Geschichte der Bundesrepublik", sagte Russwurm. Das Ziel Treibhausgasneutralität bis 2045 sei extrem ambitioniert. "Die Umsetzung der benötigten Klimaschutzmaßnahmen erfordert allein bis 2030 Mehrinvestitionen von etwa 100 Milliarden Euro pro Jahr." Die detaillierte Machbarkeitsstudie stelle dar, wie sich auf nationaler Ebene in den vier Sektoren Industrie, Verkehr, Gebäude und Energiewirtschaft die ehrgeizigen Klimaschutzziele einer Reduktion der Treibhausgase um minus 65 Prozent bis 2030 und Treibhausgasneutralität im Jahr 2045 erreichen ließen.

"Die aktuelle Klimapolitik reicht in keinem Sektor aus", warnte Russwurm. Nötig sei ein "historisches und schnelles Wirtschaftsprogramm" für die Zukunft des Standortes. Eine solch umfassende Transformation der Wirtschaft brauche eine zentrale strategische Steuerung in der Regierung, die "idealerweise beim Bundeskanzler liegen" solle. "Klimaschutz muss Chefsache werden", verlangte der BDI-Präsident. Die nächste Regierung müsse umgehend handeln. "Konkrete Entscheidungen sind überfällig", sagte Russwurm.


   Nicht ausschließlich eine Frage des Geldes 

Analysen von BCG zeigten, dass es für die kommende Bundesregierung heiße, umzusteuern und schnell Impulse für einen Investitionsturbo zu setzen - insbesondere für einen massiven Aus- und Neubau von Strom-, Wasserstoff- und Ladeinfrastrukturen, für die Erzeugung erneuerbaren Stromes und Wärme, für Elektromobilität und Schienennetze. Dabei stünden nicht ausschließlich monetäre Aspekte im Vordergrund, sondern auch die schnelle Umsetzung, zum Beispiel durch deutlich straffere Planungs- und Genehmigungsverfahren.

"Einfache Antworten greifen angesichts der komplexen Transformationsaufgabe zu kurz", betonte BCG-Partner Patrick Herhold. Deutschland brauche so schnell wie möglich einen breiten Instrumentenmix mit übergreifenden und sektorspezifischen Maßnahmen, um zügig Infrastruktur aufzubauen, fossile Brennstoffe zu verteuern, erneuerbare Technologien günstiger und die Kosten für Bürgerinnen und Bürger sowie Unternehmen tragbar zu machen. "Nur so kann die Transformation zu einem klimaneutralen Land gelingen."

In der Studie werden den Angaben zufolge insgesamt 21 zentrale politische Instrumente für die Umsetzung der notwendigen Klimaschutzmaßnahmen sowie weitere Vorschläge präzisiert, damit der komplexe Veränderungsprozess ohne soziale und ökonomische Brüche ablaufen könne. Demnach würden die staatliche Unterstützung der Transformation und der Ausgleich für besonders belastete private Haushalte und Unternehmen bis 2030 bis zu 280 Milliarden Euro netto in Anspruch nehmen- nach Abzug der Einnahmen aus einer höheren CO2-Bepreisung.

In der Industrie seien schon bis 2030 rund 50 Milliarden Euro Investitionen für die bis dahin mögliche teilweise Umstellung zentraler Produktionsprozesse bei Stahl, Chemie, Zement und Kalk notwendig. Energieintensive Unternehmen ständen bei der Modernisierung ihrer Produktionskapazitäten vor der extremen Herausforderung, mittelfristig deutlich höhere Betriebskosten für CO2-arme Produktionsverfahren und CO2-freie Energieträger finanzieren zu müssen. Zugleich werde 2030 der Strombedarf der Industrie durch die Elektrifizierung industrieller Wärmeprozesse um 63 Terawattstunden steigen. Dieser Trend werde sich bis 2045 noch verstärken.


   Hilfe vom Staat für die Wirtschaft 

"Die Politik muss die Unternehmen auf dem Weg in die Treibhausgasneutralität mit diversen Maßnahmen unterstützen, die erneuerbare Energien und ihre Nutzung deutlich günstiger machen, als sie es heute sind", forderte Russwurm. Dazu zählten die Entlastung der Strompreise für industrielle Wärmeprozesse von Umlagen und Steuern sowie für energieintensive Unternehmen die Beibehaltung bestehender Entlastungsregeln und die Sicherstellung international wettbewerbsfähiger Energiekosten, auch durch gezielte Betriebskostenförderung für CO2-freie Energieträger.

Die Bedienung einer um mehr als 40 Prozent höheren Stromnachfrage 2030 bedarf laut der Studie einer Verdoppelung des EEG-Ausbaupfades von Wind und Photovoltaik, einer Ausbauoffensive der Stromnetze sowie einer Flexibilisierung des Verbrauchs. Zusammen mit der Dekarbonisierung der Fernwärme erfordern die Maßnahmen für den Energiesektor demnach insgesamt Investitionen von 415 Milliarden Euro bis 2030 - knapp die Hälfte der insgesamt in dem Zeitraum erforderlichen Klimaschutzinvestitionen.

Der Ausbau der Lade- und Wasserstofftankstelleninfrastruktur werde bis 2030 insgesamt 74 Milliarden Euro an Investitionen in Anspruch nehmen. Er sei die zentrale Voraussetzung für den Hochlauf vollelektrischer Pkw-Neuzulassungen auf 90 Prozent und elektrischer und brennstoffzellenbetriebener Lkw auf über 70 Prozent im Jahr 2030. Nötig seien weiterhin umfassende staatliche Investitionsförderungen. Zudem sei eine jährliche Förderung von bis zu 17 Milliarden Euro bis 2030 zur schnelleren energetischen Sanierung von Gebäuden erforderlich.

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October 21, 2021 06:18 ET (10:18 GMT)