Grundlagen der Unternehmensanalyse bei börsennotierten Unternehmen

Der folgende Artikel bietet Personen mit Interesse an der Unternehmensanalyse ein klares und umfassendes Schema (in fünf Schritten) zur Bewertung börsennotierter Unternehmen.

Erster Schritt: Verständnis des Geschäftsmodells

Als erstes gilt es, sich mit dem (oder den) Unternehmensgegenstand(-ständen) des vertraut zu machen. Was macht es? Wie verdient es sein Geld? Welches sind die Besonderheiten der Branche, in der es sich entwickelt? Welche Stellung nimmt das Unternehmen innerhalb seines Marktes ein und wie positioniert es sich im Vergleich mit seinen Wettbewerbern?

Welches sind die „Kronjuwelen“ (das heißt die gewinnbringendsten Geschäftsaktivitäten), falls diese vorhanden sind? Gibt es einen Wettbewerbsvorteil (sehr niedrige Produktionskosten pro Einheit, Markteintrittsbarrieren, Monopol usw.)?

Welches ist das Margenprofil? Ist es außergewöhnlich oder besonders nachhaltig? Wie verhält es sich mit der „normalisierten“ Ertragskraft, der Struktur der Fixkosten und der durchschnittlichen Rendite (das heißt langfristig berechnet) der wichtigen Abteilungen?

Es ist nahezu unmöglich, die finanzielle Dynamik eines Unternehmens zu erfassen (und noch weniger sie zu bewerten), ohne dessen Tätigkeit und die Konjunkturlage, in welcher es besteht, zuvor genau verstanden zu haben.

Zweiter Schritt: Die Geschäftsbücher unter die Lupe nehmen

Im zweiten Schritt müssen die Bilanz und deren Entwicklung im Laufe der Geschäftsjahre untersucht werden, um so die finanzielle Position des Unternehmens genau zu bewerten. Ist es ausreichend kapitalisiert? Ist die Verschuldung tragfähig? Ist die Liquidität zufriedenstellend? Ist es bei langanhaltendem Stress dazu in der Lage, eine schlechte Konjunktur auszugleichen, ohne das Fortbestehen zu gefährden?

Nach diesem ersten „Gesundheitscheck“ beschäftigen wir uns in einem zweiten Schritt mit der Entwicklung des Eigenkapitals (natürlich unter Berücksichtigung möglicher Dividendenausschüttungen oder Aktienrückkäufen), der Vereinbarkeit der Gewinn & Verlustrechnung mit dem Cashflow, der Rentabilität des investierten Kapitals und der Art der unterschiedlichen Bilanzposten.

In diesem Stadium tappt man in die (klassische) Falle, wenn man sich nur auf die betriebswirtschaftlichen Kennzahlen beschränkt. Denn keine davon befreit bei der Analyse von einer gründlichen Recherche und einer kritischen Neubewertung. Zum Beispiel registrieren bestimmte Unternehmen Gewinne, die rein konjunkturell bedingt sind (Aufwertung von Immobilienbeständen)... Dahingegen scheinen andere Unternehmen stark defizitär, obwohl sie in der Praxis (wirkungsvoll) in ihr Wachstum investieren und somit nach außerfinanziellen Kriterien bewertet werden müssen – zum Beispiel nach der Qualität der R&D Pipeline oder dem Anstieg der Benutzerzahlen usw.

Dritter Schritt: Die Kapitalallokation nachverfolgen

Die Kapitalallokation beschäftigt sich mit den Entscheidungen der Geschäftsleitung, wie die zur Verfügung stehenden Ressourcen verwendet werden: das Eigenkapital, das ihr die Anteilseigner anvertrauen, Kredite, die von den Gläubigern bereitgestellt werden, und die angehäuften Gewinne (natürlich falls vorhanden).

Es handelt sich also um einen ständigen Ausgleich. Wohin sollen die Ressource geleitet werden? Zu welchen erhofften Renditen und zu welchen Risiken? Langfristig entwickelt sich der Eigenwert des Unternehmens gemäß der Qualität dieser Ausgleiche. Wenn man davon spricht, dass eine Geschäftsleitung Wert „schafft“ oder „vernichtet“, bezieht man sich auf die Renditen (positive oder negative), die sie mit ihrer Reinvestitionsstrategie erzielt.

Das Ziel des Analysten ist es, die Verteilung der Mittel über den Lauf der Geschäftsjahre zu „verfolgen“ und so die Rentabilität der unterschiedlichen unternommenen Investitionen zu messen – darunter der Bedarf an Betriebskapital, Sachanlagen oder Übernahmen. Demnach muss die Sinnhaftigkeit einer jeden Allokationsentscheidung (eine langwierige Aufgabe!) und somit die Qualität der Geschäftsleitung bewertet werden.

Manchmal, zum Beispiel im Fall von etablierten Unternehmen in Sektoren ohne große Wachstumschancen ist es vorzuziehen, Kapital an die Anteilseigner zurückzugeben (in Form von Dividenden oder Aktienrückkäufen), als erneut in den Bereich zu investieren.

Vierter Schritt: Erstellung eines Zahlenmodells

Was zunächst als abschreckend komplex erscheint, stellt in Wirklichkeit keine unüberwindbare Hürde dar. Ein simples, auf das wesentliche konzentrierte Modell reicht in der Regel vollkommen aus. Ein hoch entwickeltes Modell Würde mit hoher Wahrscheinlichkeit auf Abwege führen – und dieser Eindruck von ausgeprägtem Verständnis kann den Analysten oder den Investor dazu verleiten, ein leichtsinniges Risiko einzugehen oder die Situation nicht in all ihren Feinheiten zu erkennen. Oft ist es ratsamer, Entscheidungen mit einigen vernünftigen Betrachtungen zu treffen und ausgehend von sowohl einfachen als auch vorsichtigen Annahmen zu arbeiten.

Der Autor wurde vor Kurzem mit der Bewertung des bekannten Reiseportals TripAdvisor beauftragt. Ein voll ausgearbeitetes Finanzmodell würde dutzende Variablen miteinschließen, unter anderem den Internet Traffic, das Durchschnittseinkommen pro Käufer, das Wachstum bestimmter Geschäftsbereiche, die Aufrechterhaltung der Marktanteile, den Bedarf an Reinvestition in IT, die Inflation des Werbungsbudgets, die Konversionsrate bei Mobiltelefonen usw. – anders gesagt, die Anzahl  unkontrollierbarer und unvorhersehbarer Parameter ist groß.

Daher ist die Richtlinie, das es besser ist, ungefähr richtig zu liegen als genau falsch. Auch hier gilt, Einfachheit verkörpert (fast) immer die höchste Stufe der Vollendung, da gilt, je komplexer ein System, desto zerbrechlicher ist es, und umso stärker kann die kleinste unerwartete Abweichung eines Parameters eine Reihe von Auswirkungen mit sich bringen, welche den gesamten Mechanismus zum Entgleisen bringen.

Fünfter Schritt: das Unternehmen bewerten

Im zweifellos kreativsten Teil geht es darum, auf einen „angemessenen“ Wert für des das Unternehmens zu kommen – der zugrunde liegende Gedanke ist dabei natürlich, einen darunter liegenden Preis für die Aktie zu bezahlen.

Zur Erinnerung: Eine Aktie ist ein Eigentumsrecht am Kapital eines Unternehmens, kein Lotterieschein; ein umsichtiger Anteilseigner denkt wie ein Besitzer, nicht wie ein Spekulant und kann daher den Preis (was er bezahlt) vom Wert (was er erhält) unterscheiden.

Falls ein Unternehmen „angemessenerweise“ 100 Mio. Euro wert ist, auf dem Markt jedoch mit 50 Mio. bewertet wird, ist die Sicherheitsmarge groß (50 %) und ermöglicht so die Kompensation einer Vielzahl von Analysefehlern. Umgekehrt führt man einen Balanceakt durch, wenn man für dieses Unternehmen zum Beispiel 150 Mio. bezahlt: beim kleinsten Fehltritt wird sich der Preis dem Wert anpassen – oder diesen sogar unterschreiten – und der Kapitalverlust wird schmerzhaft.

Es gibt zahlreiche Verfahren, um ein börsennotiertes Unternehmen zu bewerten: die Summe aktualisierter Cashflows, die Summe der Teile, der Liquiditätswert usw. Leider reicht ein als Zusammenfassung gewollter Artikel wie dieser leider nicht aus, um alle Methoden vorzustellen...

Oft sind die einfachsten auch die wirksamsten Methoden. Studien zeigen, dass Langzeitstrategien mit dem Ziel, in Unternehmen zu investieren, deren Rentabilität des Eigenkapitals hoch und deren finanzielle Position zufriedenstellend ist, oft die besten Ergebnisse erzielen – vorausgesetzt der Kaufpreis war nicht überteuert.