FRANKFURT (DEUTSCHE-BOERSE AG) - Auf dem globalen Parkett dürften europäische Aktien 2022 den US-Titeln den Rang ablaufen. Zuwächse wie im Vorjahr erwarten die meisten aber nicht, weil einige Notenbanken wie die FED in den USA die bisherige Geldflut eindämmen, vermutlich früher und schneller als gedacht. Auf neue Rekordhöhen könnten kräftige Korrekturen folgen.

6. Januar 2021. Frankfurt (Börse Frankfurt). 2022 könnten viele Börsen neue Rekordstände verzeichnen. Der anhaltende Anlage-Notstand, die erwarteten Gewinnsteigerungen der Unternehmen und ein zweiter Konjunktur-Frühling bieten nach Analystenmeinung die Basis. Doch mit weiter hohen Inflationszahlen, sich weiter ausbreitenden Virus-Varianten, anhaltenden Lieferengpässen und zunächst bestehenden Konjunktursorgen sollte den Risiken erhöhte Aufmerksamkeit gelten. Europa wird allerdings Nachholpotential zugesprochen. Ein verhalten positives Jahr steht an der Wall Street an. Das jüngste FED-Protokoll, das gerade veröffentlicht wurde, gab Einblicke, dass die US-Notenbank schneller uns früher als gedacht die Zinsen erhöhen könnte.

Volatiler Seitwärtsmarkt mit Korrekturpotential

Dem fulminanten Start in das neue Jahr mit deutlichen Zugewinnen in Europa und den USA stehen bald neue Realitäten ins Haus: "Wir erwarten einen volatilen Seitwärtsmarkt, weil der Nährboden Liquidität den Märkten allmählich entzogen wird", erklärt Marc Richter von der Baader Bank. Das bedeutet: "Wir könnten zehn bis 15 Prozent Korrekturen in vielen Märkten sehen, was aber vollkommen gesund ist." Abverkäufe und Gewinnmitnahmen sollten in Sektoren wie Technologie, aber auch in den breiten Märkten die ersten beiden Quartale prägen.

Die Volatilität bleibe laut Richter hoch vor allem in Tech-Werten und Impftiteln, während Value-Werte und Indizes wie DAX und Euro Stoxx 50 oder Russell 2000 weniger stark schwanken sollten. "Wir haben in der Vergangenheit immer wieder gesehen, dass eine erhöhte Volatilität bei Aktien noch zwei, drei Jahre Bestand hatte, wenn die Risikofaktoren abgeklungen waren." Insgesamt sollte das Jahr recht ruppig werden:"Mit den höheren Zinsen in den USA dürfte vor allem den Tech-Werten der Nährboden für die Jahrzehnte lange Rallye entzogen werden." Im Umfeld steigender Zinsen könnten mehr Investor*innen von Aktien zu Anleihen umschichten, doch es gäbe auch positive Effekte der Zinsschritte: "Mit mehr Gewissheit über das Zinsumfeld kann das zweite Halbjahr dann besser werden", prognostiziert Richter.

Anknüpfungen an das Vorjahr gäbe es in vielen Regionen allerdings nicht: Dem US-Index S&P 500 waren im vergangenen Jahr insgesamt 70 Rekordschlussstände gelungen und ein Kursplus von 27 Prozent. Im internationalen Vergleich hatten der Nikkei 225 und der Shanghai Composite mit je rund fünf Prozent Plus unterdurchschnittlich zugelegt. In Europa hatte der Euro Stoxx 50 um 20 Prozent an Wert gewonnen, der DAX 16 Prozent. Die größten Verlierer finden sich jedoch in Asien und Lateinamerika: Der Bovespa hatte rund 13 Prozent eingebüßt, der Hang Seng gut 14 Prozent.

"Jahr der Zinswende": drei bis vier Schritte in den USA denkbar

Einen neuen Eindruck zur Zinsentwicklung hat laut Michael Arras von Oddo BHF das FED-Protokoll der Dezember-Sitzung gegeben: "Die FED könnte in diesem Jahr sogar drei- bis viermal die Zinsen anheben, weil die Inflation in den USA erschreckend hoch ist und der Arbeitsmarkt heißläuft." Die US-Notenbank müsse früher und schneller gegensteuern als von vielen erwartet. "Diese Aussicht hat die Aktienmärkte verschreckt." Vor allem Technologie-Aktien sanken. Doch es gäbe auch positive Effekte, vor allem für Finanzwerte sei das Umfeld höherer Zinsen positiv.

Mit dem Ende des Taperings im März werde die US-Notenbank FED zügig die Zinsen erhöhen. Darin sind sich die meisten: Ein "Jahr der Zinswende" erwartet unter anderen Ulrich Stephan, Anlagestratege bei der Deutschen Bank. Anhaltend hohe Inflationszahlen und die Entwicklung der Wirtschaft dürfte vor allem die US-Notenbank FED veranlassen, Mitte 2022 die US-Leitzinsen erhöhen. Für das Jahresende 2022 prognostiziert Stephan dennoch einen S&P 500 von 5.000 Punkten.

"Jahr des Kapitalerhalts": S&P mit technischem Potential

"Wir plädieren 2022 insgesamt für ein Jahr des Kapitalerhalts", erklärt Jörg Scherer von der HSBC aus technischer Sicht. Grundsätzlich sei aber ein Jahr, in dem der S&P 500 mindestens 20 Prozent hinzugewonnen habe (und 2021 waren es 27 Prozent) historisch eine positive Vorlage für das Folgejahr - auf Basis der Daten seit 1928: "In 70,8 Prozent der Fälle konnte das Aktienbarometer im Folgejahr weiter zulegen - und zwar im Durchschnitt um 7,7 Prozent." Die Trefferquote liege bei 70,8 Prozent. Auffällig sei, dass eine kürzere Historie Trefferquote und Performance noch besser dastehen ließe: "So lässt sich bei Berücksichtigung der Daten seit 1945 mit einer Trefferquote von 80 Prozent bereits ein zweistelliges Kursplus realisieren. Seit 1990 kam es sogar in 9 von 10 Fällen zu Anschlussgewinnen, die im Durchschnitt gut 14 Prozent betrugen."

Andere Meinunge: "S&P 500 weitgehend ausgereizt"

Christian Schmidt von der Helaba ist weniger optimistisch für den US-Markt. Der Spielraum für den S&P 500 sei weitestgehend ausgereizt. Zum ersten Quartal erwartet Schmidt den S&P 500 bei 4.200 Punkten, im zweiten Quartal stärker mit 4.600, bis er über 4.500 auf 4.400 im Schlussquartal abrutscht.

Schmidt begründet das zunächst mit einem Blick auf die Margen der US-Unternehmen, die nah an historischen Höchstständen sei: "In der Vergangenheit kam es von ähnlichen Niveaus ausgehend nahezu ausnahmslos zu Rückgängen. Daher erwarten wir, dass sich die Dynamik der Unternehmensgewinne abschwächen wird, jedoch positiv bleibt." Die Gewinne pro Aktie der Unternehmen im S&P 500 seien 2021 zwar rekordhoch ausgefallen, die Bewertungen aber noch immer ambitioniert. Die Bewertungen dürften zwar im Umfeld einer weniger expansiven Geldpolitik nicht weiter steigen, so dass sich Kurse und Gewinne moderater entwickeln sollten als in den letzten Jahren - aber positive Überraschungen seien auch schon eingepreist.

Luft nach oben bei Europas Aktien

Auch Analyst*innen der Commerzbank sehen größere Chancen im europäischen Aktienmarkt; sie behalten dennoch eine globale Depot-Ausrichtung bei: "Da das Tempo der konjunkturellen Erholung in Europa (von einer niedrigeren Basis aus) höher ausfallen dürfte als beispielsweise in den USA, sehen wir für europäische Aktien das größte Potenzial", kommentiert Chris-Oliver Schickentanz, Chefanlage-Stratege der Commerzbank. Dazu passe auch die vergleichsweise niedrigere Bewertung. Aber: "Trotz dieser Präferenz raten wir Anlegern dazu, das Depot konsequent global auszurichten." Nach dem starken Vorjahr dürften US-Aktien im Vergleich zu Europa etwas hinterherhinken, der stärkere US-Dollar sollte diesen Nachteil aber wettmachen.

Nach Ansicht von Stephan könne es sich lohnen, auf "Nachzügler" zu setzen: "Europäische Aktien werden im Vergleich zu US-Titeln mittlerweile so günstig gehandelt wie nie in den vergangenen 20 Jahren und haben sich in Zeiten steigender Kapitalmarktzinsen häufig überdurchschnittlich gut entwickelt." Doch auch für Chinas Aktienmarkt, der 2021 zu den schwächeren im internationalen Vergleich gehört hatte, ist Stephan optimistisch, sofern die Bedingungen dafür geschaffen werden: "Chinesische Aktien könnten sich indes erholen, sollte die Regierung ihre Regulierungsmaßnahmen etwas lockern, um keine signifikante Abkühlung der Konjunktur zu riskieren."

Schickentanz sieht zahlreiche konjunkturelle Risiken, wobei China positiv überraschen könnte, wenn sich die Regierung und die Notenbank entschieden, beherzt der wirtschaftlichen Abkühlung entgegenzutreten.

Richter verweist hingegen auf die Konflikte zwischen China und den USA: "Politische Risiken bergen erneut hohes Korrekturpotential, weil die Themen wie die De-Listings von chinesischen Unternehmen an den Börsen in den USA zwar bekannt, aber derzeit noch nicht im Fokus sind." Die Performance des Hang Seng im vergangenen Jahr habe gezeigt, welche Auswirkungen politische Risiken auf Aktien haben können.

Inflation bleibt beherrschendes Thema

"Das alles bestimmende Thema dürfte die Inflation sein", ergänzt Stefan Schneider, Volkswirt bei Deutsche Bank Research. Für die USA sieht er 4,4 Prozent Inflation, was sich aber im Laufe des Jahres abschwächen könnte. In der Eurozone seien 2,8 Prozent Preissteigerungen realistisch. Die gute Nachricht für Europa aus Sicht der Deutschen Bank ist, dass sich die Wirtschaft der Eurozone im neuen Jahr erstmals seit Jahren besser entwickeln als in den USA.

Hohe Inflationsraten prägten und prägen auch die Wirtschaft in Lateinamerika und veranlassten verschiedene Notenbanken, die Zinsen anzuheben, womit Stephan auch 2022 rechnet. Außerdem dürften das Auslaufen staatlicher Transferleistungen den privaten Konsum dämpfen und Wahlen etwa in Brasilien und Kolumbien die politische Unsicherheit erhöhen. "Auch deshalb stehen lateinamerikanische Aktien in diesem Jahr nicht auf meiner Favoritenliste 2022", schreibt Stephan.

Zweite Handelswoche: Nagelprobe nach Tech-Rally

In den vergangenen Handelstagen spielte die Technologie wieder die Hauptrolle: Die 3-Billionen-Dollar-Bewertung von Apple als erstem Unternehmen der Welt überhaupt, dass diese Bewertung erreicht, schürte die Stimmung ebenso wie die neuen Verkaufsrekorde von Apple. Nach Ansicht von Richter könnten aber Gewinnmitnahmen einsetzen nach dem Motto "Sell on good news". Das würde auch Überbewertungen in Einzelaktien wie Tesla korrigieren.

In der zweiten Handelswoche sieht Richter die erste Nagelprobe. Erst dann seien die Umsätze nennenswert, weil die Ferienzeit zu Ende geht. In dieser Woche wie auch in diesem Jahr sollten die US-Arbeitsmarktdaten insgesamt an den Märkten besonders im Fokus stehen, weil die FED sich auch hiernach - neben der Inflation - richten werde.

Arras sieht im Cannabis-Markt mit fortschreitender Legalisierung für das Jahr 2022 Chancen sowie die Pharma-Branche, in der einige Fusionen und Übernahmen anstehen könnten.

von: Antje Erhard 6. Januar 2022, © Deutsche Börse AG

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