FRANKFURT (DEUTSCHE-BOERSE AG) - Fondsmanager Christoph Frank fragt, welche Auswirkungen, neben dem persönlichen ?"rgernis, Streiks auf die Wirtschaft haben können.

18. März 2024. (pfp Adisory). Für mich und mein persönliches Umfeld ist es ein ungewohnter, aber neuerdings notwendiger Check vor jedem Reiseantritt: Wer streikt heute? Und ist meine Reise oder die Fahrt zum Büro betroffen? Mal sind die Lokführer verantwortlich, weshalb Züge und S-Bahnen nicht fahren, Busse und U-Bahnen aber schon. Dann wieder stehen Busse und Straßenbahnen still und die S-Bahnen bewegen sich weitgehend normal. Und bei so mancher Reise innerhalb Deutschlands war es zuletzt nötig, noch kurz vor Abfahrt das Verkehrsmittel zu wechseln - etwa vom ICE aufs Auto umzudisponieren.

Das ist lästig und immer noch unvertraut, galt Deutschland bislang doch als Staat, der kaum von Streiks betroffen war. Stattdessen stimmt mein subjektiver Eindruck mit dem überein, was das Statistische Bundesamt auf seiner Website über die Jahre 1995 bis 2020 schreibt: "In den meisten Wirtschaftszweigen traten Streiks nur temporär auf, während in vielen Jahren gar keine Arbeitsausfälle zu verzeichnen waren. Häufig sind sie für die ?-ffentlichkeit kaum zu spüren."

Das ist seit einigen Monaten definitiv anders. Doch was bedeutet die neue Streiklust für Deutschlands Volkswirtschaft und seinen Aktienmarkt? Die naheliegende Frage nach dem wirtschaftlichen Gesamtschaden, etwa der ständigen Bahnstreiks, ist indes nicht leicht zu beantworten. Das Institut der deutschen Wirtschaft in Köln beziffert die Kosten für einen flächendeckenden Streiktag im Zugverkehr auf rund 100 Millionen Euro, verteilt auf jeweils ein Drittel Schaden bei der Deutschen Bahn, beim nachgelagerten Privatkonsum und wegen Störungen in den betroffenen Lieferketten.

Diese Zahlen werden allerdings von anderen Forschungsinstituten in Zweifel gezogen. Auch ich halte die Größenordnungen für fragwürdig. Nach meiner Erfahrung ist die Privatwirtschaft ausreichend flexibel. Gut geführte Unternehmen haben meist einen Plan B und passen sich schnell an. Es mag zu Verzögerungen kommen, wenn etwa ein Schwertransport nicht auf der Schiene durchgeführt werden kann und stattdessen auf die Autobahn umgeleitet werden muss. Das Käsebrötchen, das in der Bahnhofshalle erworben worden wäre, kann bei einem anderen Bäcker gekauft werden. Und Autos, die wegen fehlender Teile oder stillstehender Bänder zunächst nicht zusammengeschraubt werden können, müssen dann eben ein paar Tage später montiert und ausgeliefert werden.

Diese Verzögerungen können temporär einzelne Unternehmen wie BMW oder Mercedes betreffen, für die sich in der Folge Umsätze und Gewinne in ein späteres Quartal verschieben, aber gesamtwirtschaftlich dürften die Effekte eher gering sein. Überdies kommt es erfahrungsgemäß zu Ausweichreaktionen: Wenn die Züge nicht fahren, weichen Reisende beispielsweise auf das Auto aus und leiten das Geld von Bahnfahrkarten zum Bezahlen von Kraftstoff oder Leihautos um. Die Deutsche Bahn hat den Schaden, BP und Sixt beispielsweise freuen sich.

Derart klare Auswirkungen von Streiks auf einzelne börsennotierte Firmen sind indes eher selten, etwa wenn ein Unternehmen direkt bestreikt wird und dann natürlich auch einen direkten Schaden erleidet. Letztlich werden Anlegende die Effekte nur in einer sorgfältigen Analyse der betroffenen Einzelunternehmen ermitteln können. Beispielsweise könnte die Lufthansa von der Streiklust deutscher Lokführer und Bahnmitarbeiter profitieren. Andererseits war der Kranich selbst in der jüngeren Vergangenheit von Streiks der Piloten oder des Abfertigungspersonals negativ betroffen. Unternehmen mit hohen Personalkosten im Verhältnis zum Umsatz sowie hohem gewerkschaftlichen Organisationsgrad dürften tendenziell stärker von Streiks und späteren kostspieligen Tarifabschlüssen betroffen sein. Bedeutende Kursreaktionen auf Streikankündigungen sind bei den betroffenen Firmen aber selten.

Volkswirtschaftlich dürften die direkten Auswirkungen von Streiks noch begrenzter sein. Einen gesamtwirtschaftlichen Aspekt indirekter Art sehe ich indes kritisch: Bisher verfügte Deutschland über den klaren Standortvorteil, dass es hierzulande in den vergangenen Jahrzehnten vergleichsweise wenige Streiks gab. Dieses Image bekam zuletzt einige Kratzer. Meine Verwandten in der Schweiz und Italien haben schon die eine oder andere spitze Bemerkung über den einstigen Musterschüler Deutschland fallen lassen. Wichtiger in diesem Zusammenhang: Ausländische Investoren(innen) mögen weder Unplanbarkeit noch Unsicherheit. Stattdessen schätzen sie Stabilität und Berechenbarkeit. Wenn Deutschland in ihrer Wahrnehmung ins Lager der streikfreudigen Märkte wechselt, in dem selbst kleine Gewerkschaften Forderungen kompromisslos und aggressiv vortragen, dürfte es im Standort-Ranking und als Anlageziel weiter an Boden verlieren.

Von Christoph Frank, 18. März 2024, © pfp Advisory

Christoph Frank ist geschäftsführender Gesellschafter der pfp Advisory GmbH. Gemeinsam mit seinem Partner Roger Peeters verwaltet der Experte, der seit über 25 Jahren am deutschen Aktienmarkt aktiv ist, den 2006 aufgelegten und mehrfach ausgezeichneten Stock-Picking-Fonds DWS Concept Platow (WKN DWSK62) sowie den im August 2021 aufgelegten pfp Advisory Aktien Mittelstand Premium (WKN A3CM1J). Weitere Informationen unter www.pfp-advisory.de. Frank schreibt regelmäßig für die Frankfurter Wertpapierbörse.

(Für den Inhalt der Kolumne ist allein Deutsche Börse AG verantwortlich. Die Beiträge sind keine Aufforderung zum Kauf und Verkauf von Wertpapieren oder anderen Vermögenswerten.)