Von Jinjoo Lee

NEW YORK (Dow Jones)--Warum war amerikanisches Erdgas im vergangenen Jahr so teuer? Da sich die Preise in den USA und in Europa im Gleichschritt bewegten, konnte man leicht vergessen, dass dieser Rohstoff größtenteils in den USA produziert und verbraucht wird. Das warme Wetter und die wieder aufgefüllten Lagerbestände lenken den Blick nun wieder auf die heimische Dynamik.

In den USA ist zwar erst die Hälfte der Heizsaison vorbei, aber die Preise für die sogenannten Henry-Hub-Terminkontrakte sind seit Weihnachten um 23 Prozent abgerutscht und rangieren nun bei 3,91 US-Dollar pro Million British Thermal Units (MMBtu). Zum Vergleich: Das sind 40 Prozent weniger als im Jahresdurchschnitt 2022 und satte 60 Prozent weniger als der Höchststand im vergangenen Sommer.


Witterungsbedingte Preise 

Das warme Wetter - sowohl in Nordamerika als auch in Europa - spielte dabei eine große Rolle. Die extreme Kälte Ende Dezember in den USA war zwar brutal, aber nur von kurzer Dauer, und das Land erlebt den wärmsten Januar seit 15 oder mehr Jahren, so Eli Rubin von EBW Analytics.

Zwar haben die Erdgaspreise des Vorjahres extreme Ängste geschürt, als Russland die Lieferungen nach Europa stark einschränkte, wo die Lager vor dem vergangenen Winter dringend wieder aufgefüllt werden mussten. Rohstoffanalyst Christopher Louney von RBC Capital Markets schätzt, dass der so genannte geopolitische Aufschlag auf die US-Preise im vergangenen Jahr zu verschiedenen Zeitpunkten 2 bis 3 Dollar pro MMBtu betrug.

Auf dem Höhepunkt im August rangierten die europäischen Benchmark-Preise bei mehr als 100 Dollar je MMBtu. Etwa zur gleichen Zeit erreichten die US-Erdgaspreise einen Höchststand von fast 10 Dollar pro MMBtu, da die Märkte sich stark auf den Preis konzentrierten, den die USA benötigten, um mit den verzweifelten europäischen Käufern konkurrieren zu können. Der Füllgrad der inländischen Erdgasspeicher lagen zu dieser Zeit 12 bis 13 Prozent unter dem Durchschnitt der vergangenen fünf Jahre.


EU mit komfortablem Gas-Polster 

Heute sehen die Lagerbestände auf beiden Seiten des Atlantiks wesentlich passabler aus. In den USA lagerten Ende Dezember fast 2,9 Billionen Kubikfuß Erdgas, was innerhalb der üblichen Schwankungsbreite der vergangenen fünf Jahre liegt und nur 6,7 Prozent unter dem Fünfjahresdurchschnitt. Derweil sind in der EU die Erdgasspeicher zu etwa 83 Prozent ausgelastet, was nach Angaben des Branchenverbands Gas Infrastructure Europe ein gesundes Polster bedeutet, verglichen mit 51 Prozent im Vorjahr.

Obwohl die USA einer der größten Exporteure von Flüssigerdgas (LNG) sind, wird das meiste von dem, was sie produzieren, im Inland verbraucht. Die monatlichen Erdgasexporte der USA beliefen sich im Oktober 2022 auf rund 553,7 Milliarden Kubikfuß, was etwa 16 Prozent der gesamten US-Produktion in diesem Monat entsprach. Davon entfielen 9 Prozent der Gesamtproduktion auf LNG-Exporte, die per Schiff und nicht über Pipelines erfolgen.


Bestandsaufbau könnte Erdgaspreise in Europa treiben 

Wenn es nicht zu einem dramatischen Umschwung mit eisigem Wetter kommt, werden die Erdgaspreise 2023 wahrscheinlich relativ gedämpft ausfallen und die regionale Dynamik widerspiegeln. Die europäischen Erdgaspreise könnten im weiteren Verlauf des Jahres noch klettern, da der Kontinent versucht, seine Bestände aufzustocken.

Bis 2024 dürften keine neuen LNG-Exportterminals in den USA in Betrieb gehen. Freeport LNG, eine große bestehende Anlage, die im Juni wegen eines Brandes stillgelegt wurde, soll nun in der zweiten Januarhälfte wieder starten, was aber nur eine zusätzliche Exportkapazität von etwa 60 Milliarden Kubikfuß pro Monat bedeutet.


USA zwischen Kohle und Gas 

Die längerfristigen Aussichten für Erdgas sind eher positiv. Die USA werden ihre LNG-Exportkapazitäten zwischen 2024 und 2026 um etwa 40 Prozent gegenüber dem heutigen Stand ausbauen. Der Energie-Informations-Behörde (EIA) zufolge werden zwischen 2022 und 2029 etwa 27 Prozent der noch aktiven Kohlekraftwerke in den USA stillgelegt.

Wenn die Erdgaspreise in die Höhe schnellen, könnte dies den Spielraum der USA für einen Wechsel weg von der Kohleverstromung begrenzen. Bis auf Weiteres wird die Wettervorhersage ein besserer Gradmesser für die Entwicklung der Erdgaspreise in den USA sein als die Geopolitik.

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January 10, 2023 09:16 ET (14:16 GMT)