Istanbul (Reuters) - Der türkische Präsident Tayyip Erdogan muss sich aller Wahrscheinlichkeit nach zum ersten Mal einer Stichwahl stellen.

Nach Auszählung fast aller Stimmen liegt der Amtsinhaber zwar deutlich vor seinem Herausforderer Kemal Kilicdaroglu. Allerdings gelang es ihm demnach nicht, gleich im ersten Durchgang sich die nötige absolute Mehrheit zu sichern. Auf den dritten Kandidaten Sinan Ogan kommt damit nach Einschätzung von Experten die Rolle des Königsmachers zu. "Der Sieger war zweifelsweise unser Land", sagte Erdogan in der Nacht zum Montag vor Anhängern. Kilicdaroglu warf Erdogans AKP dagegen Einflussnahme auf Auszählung und Bekanntgabe des Wahlergebnisses vor. Er rief seine Anhänger zu Geduld auf.

Erdogan kam nach Auszahlung von 99 Prozent der Stimmen auf 49,4 Prozent Zustimmung, Kilicdaroglu erhielt knapp 45 Prozent, wie der Vorsitzende der Wahlbehörde Ahmet Yener mitteilte. 5,2 Prozent entfielen auf den Ultranationalisten Ogan. Als Drittplatzierter wäre er bei der Stichwahl 28. Mai nicht mehr dabei. Die Wahlbeteiligung lag bei 88,8 Prozent und damit vergleichsweise hoch.

Unterstützer des Oppositionskandidaten zeigten sich enttäuscht. "Wir sind traurig, wir sind deprimiert wegen dieser Situation", sagte Volkan Atilgan, der am Montag in Istanbul auf seine Fähre wartete. "Wir hatten ein anderes Ergebnis erwartet. So Gott will, wir werden den Sieg in der zweiten Runde erringen." Kilicdaroglu hatte im Wahlkampf eine Abkehr von der zuletzt zunehmend autoritären Politik Erdogans und eine Rückkehr zur orthodoxen Wirtschaftspolitik versprochen. Viele Türken leiden unter der hohen Inflation, die nicht zuletzt durch den Kursverfall der Lira angeheizt wird. In Umfragen hatte er zuletzt vor Erdogan gelegen.

Am Finanzmarkt gab die türkische Lira nach, Aktien und Anleihen gerieten unter Druck. Analysten sprachen von einer Enttäuschung von Investoren, die auf einen Wahlsieg des Oppositionskandidaten und eine Rückkehr zur orthodoxen Wirtschaftspolitik gehofft hatten. Erdogan habe in seiner Amtszeit die Unabhängigkeit der türkischen Zentralbank ausgehöhlt, sagte Thomas Gitzel, Chefvolkswirt der VP Bank.

Erdogans Anhänger gehen jedoch davon aus, dass der 69-Jährige die wirtschaftlichen Probleme in den Griff bekommt. "Es ist sehr wichtig für das türkische Volk, dass Erdogan die Wahl gewinnt", sagte der Softwareingenieur Feyyaz Balcu. "Er ist ein internationaler Staatsmann, und alle Türken und Muslime wollen Erdogan als Präsident."

Die gleichzeitig abgehaltene Parlamentswahl entschied das Bündnis um Erdogans AKP deutlich für sich, die Allianz von Kilicdaroglu lag auf dem zweiten Platz. Allerdings hat das Parlament seit der Einführung des Präsidialsystems 2017 nur noch eingeschränkte Macht.

ERDOGANS PARTEI BEI PARLAMENTSWAHL FÜHREND

In der zweiten Runde habe das Bündnis um Erdogan "numerische und psychologische Vorteile", sagte Galip Dalay, Experte beim britischen Think Tank Chatham House. "Im Wahlkampf dürfte er vor allem das Thema Stabilität betonen, zumal sein Bündnis schon jetzt die Mehrheit im Parlament hat."

Unter Erdogans Führung hat das Land politisch an Gewicht gewonnen. Erdogan ist einer der wichtigsten Verbündeten des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Der Kreml erklärte, auch in Zukunft mit der Türkei zusammenzuarbeiten, egal, wer die Wahl gewinne. Unter türkischer Vermittlung kam das Getreideabkommen zwischen Russland und der Ukraine zustande.

Zugleich hat der 69-Jährige das Land durch den Bau neuer Brücken, Kliniken und Flughäfen modernisiert. Erdogan genießt vor allem bei frommen Türken Rückhalt, die sich in der säkularen Türkei einst entrechtet fühlten. Menschenrechtsaktivisten werfen ihm dagegen vor, die türkische Demokratie beschädigt zu haben. Kritiker fürchten, dass er seinen autoritären Kurs bei einem Wahlsieg fortsetzt; der Präsident erklärte dazu, er respektiere die Demokratie.

(Bericht von Huseyin Hayatsever und Jonathan Spicer, geschrieben von Christina Amann.; Redigiert von Hans Busemann; Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter Berlin.Newsroom@thomsonreuters.com (für Politik und Konjunktur) oder Frankfurt.Newsroom@thomsonreuters.com (für Unternehmen und Märkte)