Von Joe Wallace

LONDON (Dow Jones)--Derzeit macht sich mit Blick auf die Energiekrise wieder Hoffnung in Europa breit. Viele Beobachter hatten befürchtet, dass eine solche dem russischen Präsidenten Wladimir Putin in die Karten spielen würde, da Moskau sich auf eine mögliche Invasion in der Ukraine vorzubereiten scheint. Ein Rekordzustrom von Flüssiggas in Verbindung mit mildem und windigem Wetter hat die Entnahme aus den stark erschöpften unterirdischen Gasspeichern verlangsamt. Auch der verstärkte Zustrom von Gas aus Russland über die Ukraine trägt dazu bei. Nach Angaben von Gas Infrastructure Europe ist das Angebot immer noch gering und deckt nur 38 Prozent der europäischen Speicherkapazität ab. Doch das Defizit im Vergleich zu früheren Wintern verringert sich, und die Preise sind von ihren Rekordhöhen zurückgegangen.

Der Gasmangel in Europa hat die Fähigkeit der Region beeinträchtigt, auf die Stationierung von mehr als 100.000 Soldaten an der Grenze zur Ukraine zu reagieren. Vor allem Deutschland hat gezögert, die strengsten Sanktionen zu befürworten. Die Wirtschaft des Landes wäre akut gefährdet, wenn Moskau als Vergeltungsmaßnahme mitten im Winter die Energieexporte drosseln würde. Doch die Erdgas-Terminkontrakte in den Niederlanden, dem Referenzmarkt in Nordwesteuropa, sind in der vergangenen Woche um 16 Prozent gefallen. Dieser Rückgang beschleunigte sich, nachdem mehr russisches Gas aus der Ukraine in die Slowakei zu fließen begann. Die Preise liegen um 59 Prozent unter dem Allzeithoch von 180,27 Euro pro Megawattstunde, das Mitte Dezember erreicht wurde, aber immer noch viermal so hoch wie vor einem Jahr.


Wetter sorgt für zusätzliche Entspannung 

Die Befürchtung, dass sich die Speicher im Laufe des Winters leeren könnten, beherrschte die Energiemärkte in Europa Ende vergangenen Jahres. Das windige und für die Jahreszeit ungewöhnlich warme Wetter kam der Region zu Hilfe, indem es die Stromerzeugung aus erneuerbaren Energiequellen steigerte und den Bedarf von Gaskraftwerken verringerte. Mittelfristige Prognosen deuteten darauf hin, dass ein Kälteeinbruch, der die Preise wieder in die Höhe treiben könnte, nicht zu erwarten sei, so Natasha Fielding, Gasanalystin bei Argus Media. Und die Lage in Europa dürfte sich weiter entspannen. Die US-Exporteure liefern eine Ladung Flüssiggas (LNG) nach der anderen, angelockt durch Preise, die Ende vergangenen Jahres über denen in Asien lagen. Nach Angaben des auf Rohstoffdaten spezialisierten Unternehmens ICIS importierte Europa im vergangenen Monat eine Rekordmenge von 9,5 Millionen Tonnen LNG, fast dreimal so viel wie im Januar 2021.

Fast die Hälfte des LNGs kam aus den USA. Laut Tom Marzec-Manser, Leiter der Gasanalyseabteilung bei ICIS, stehen dreißig Schiffe mit Gas aus den USA für Februar bereit. In diesen Zahlen ist die Türkei nicht enthalten, die nach einer Störung an einer Pipeline, durch die iranisches Gas in das Land geleitet wird, mit einer Gasknappheit kämpft. Die Ankunft von so viel LNG ermöglichte es Europa, sparsam mit dem Gas umzugehen, das es im Vorfeld des Winters gehortet hatte. Die Vorteile verteilten sich über den ganzen Kontinent, anstatt nur in den Küstenländern mit Gasimportterminals zu liegen. Der Grund: In den vergangenen Jahren sind zahlreiche Pipeline-Verbindungen zwischen den nationalen Gasmärkten entstanden. "Da ist Licht ist am Ende des Tunnels", freut sich Marzec-Manser.


Russen exportieren zuletzt wieder mehr Gas 

Auch Russland hat in den vergangenen Tagen begonnen, mehr Gas nach Europa zu liefern. Auf das Land entfallen etwa 43 Prozent der EU-Gasimporte, und es hatte seine Lieferungen im vergangenen Jahr gedrosselt, was dazu beigetragen hat, die Preise auf ein Allzeithoch zu treiben. Zu Beginn des Jahres 2022 belieferte Russland Europa weiterhin nur tröpfchenweise mit Gas, doch im Februar haben die Lieferungen deutlich zugenommen und die Preise nach unten gedrückt. Am Dienstag und Mittwoch strömten nach vorläufigen Angaben des slowakischen Pipelinebetreibers insgesamt 119 Millionen Kubikmeter in die Slowakei bei Ve ké Kapušany, nahe der Grenze zur Ukraine. Das ist ein deutlicher Anstieg. In der letzten Januarwoche flossen im Durchschnitt 47,5 Millionen Kubikmeter pro Tag durch den Kontrollpunkt. Von der Slowakei aus kann russisches Gas in die Tschechische Republik, nach Ungarn und nach Baumgarten fließen, einer österreichischen Gasdrehscheibe mit Verbindungen nach Deutschland, Frankreich und Italien.

Als Gazprom PJSC im vergangenen Jahr die Exporte nach Europa drosselte, warfen EU-Parlamentarier Moskau vor, seine Dominanz auf dem Energiemarkt als Waffen zu nutzen - ein Vorwurf, den das Unternehmen und der Kreml zurückwiesen. Der Rückgang der Exporte im Januar und der anschließende Anstieg sind auf einen eher technischen Faktor zurückzuführen. Im Rahmen ihrer Verträge mit Gazprom zahlen die europäischen Kunden in der Regel einen Preis, der an die Gaslieferungen des ersten Monats gebunden ist. Als die Kontrakte im Dezember in die Höhe schnellten, reduzierten Versorgungsunternehmen und andere Abnehmer ihre Käufe. Als die Vormonatspreise Anfang 2022 nachgaben, kehrten die Gazprom-Kunden für Februar-Lieferungen wieder auf den Markt zurück.


Russland bleibt Risikofaktor 

Europa hat nach wie vor wenig Handlungsspielraum, und eine Eskalation der Spannungen mit Russland bleibt ein Risikofaktor. Europäische und US-Verantwortliche gehen kein Risiko ein und haben in den vergangenen Wochen alles darangesetzt, die Energielieferungen zu sichern, falls das militärische Patt die Lieferungen durch Gazprom gefährden sollte. Vorerst jedoch werden die sinkenden Preise die Aluminium-, Zink- und Düngemittelhersteller entlasten, die auf die explodierenden Energiekosten mit Produktionskürzungen reagierten. Auch in Großbritannien, dem anderen Gashandelszentrum der Region, sind die Gaspreise gesunken. Die Strompreise, die eng mit dem Gasmarkt in Europa verbunden sind, sinken in Deutschland und Frankreich, den beiden größten Volkswirtschaften der EU. In Ländern wie Großbritannien und Frankreich haben die Verbraucher den sprunghaften Anstieg der Großhandelspreise im vergangenen Jahr noch nicht in vollem Umfang zu spüren bekommen, und der jüngste Rückgang wird noch länger auf sich warten lassen.

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February 03, 2022 04:37 ET (09:37 GMT)