Von Rochelle Toplensky

LONDON (Dow Jones)--Europa und Russland verbindet beim Gas seit Jahrzehnten eine Hassliebe. Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz wird bei seinem aktuellen Besuch in Washington unter großem Druck stehen, die Beziehungen zu überdenken.

Ein schneller Bruch mit Russland ist zwar unwahrscheinlich, aber ein Wandel ist in Sicht. Frühere Ukraine-Krisen haben Europa dazu veranlasst, seinen Energiebinnenmarkt zu vernetzen und in erneuerbare Energien zu investieren. Die derzeitige Krise wird wahrscheinlich einen weiteren Impuls für saubere Energie geben und für bessere Verbindungen der Region mit dem Rest der Welt.

Etwa 40 Prozent der europäischen Gasimporte kommen aus Russland, während 70 Prozent der Gaspipeline-Verkäufe des staatlichen Lieferanten Gazprom nach Westeuropa fließen. Die engen deutsch-russischen Beziehungen sind derweil kein Zufall. Sie beruhen auf einer westdeutschen Politik der "Pipeline-Diplomatie" mit Moskau aus der Zeit des Kalten Krieges, die beide Seiten miteinander verband, wie Henning Gloystein von der politischen Denkfabrik Eurasia erläutert. "Diese Politik lebt in der SPD noch immer fort", analysiert er und weist damit direkt auf Kanzler Scholz.


 
Enge Bande zu Russland immer mehr Beobachtern ein Dorn im Auge 
 

In Deutschland und darüber hinaus, insbesondere in den ehemaligen Ostblockstaaten, wächst die Skepsis gegenüber dieser Verflechtung. Die aufeinanderfolgenden russisch-ukrainischen Krisen haben die Entschlossenheit der EU zu mehr Energiesicherheit gestärkt. Angesichts der Zeit und der enormen Investitionen, die für die Umstellung auf andere Brennstoffe oder sowohl den Bau von Pipelines als auch Flüssiggasterminals erforderlich sind, wird sich der Wandel jedoch nur langsam vollziehen. Als Gazprom der Ukraine in den ersten Wochen des Jahres 2009 das Gas abstellte, räumte die EU der Anbindung ihres Binnenmarktes Priorität ein, um die Mitglieder vor einer ähnlichen Bedrohung zu schützen. "Man könnte also argumentieren, dass Gazprom sich damals selbst in den Fuß geschossen hat und jetzt Gefahr läuft, denselben Fehler erneut zu begehen", verdeutlicht Gloystein.

Europa hat einige Fortschritte gemacht. Gazprom wurde zu flexibleren Verträgen gezwungen, die es den Abnehmern ermöglichen, ihr Gas zu teilen. Verbindungen wurden gebaut und modernisiert, um Gasflüsse in beide Richtungen zu ermöglichen. Außerdem wurden Investitionen in den Bau von Anlagen zur Stromerzeugung aus erneuerbaren Energiequellen und von Stromleitungen sowie von neuen LNG-Terminals und Pipelines beschleunigt. Doch trotz all dieser Maßnahmen ist Europa nach wie vor sehr stark vom russischen Gas abhängig. Die Umstellung von Kohle- auf Gaskraftwerke und die Schließung von Kernkraftwerken haben die Gasnachfrage erhöht. Gleichzeitig schrumpft das heimische Gasangebot. Die lokalen Reserven sind erschöpft, ein großes niederländisches Feld wird geschlossen und neue Explorationen sind aufgrund des öffentlichen Drucks fast unmöglich.


 
Gazprom lieferte zeitweise nur das vertraglich zugesicherte Minimum 
 

In diesem Jahr war das Gasangebot in Europa unter anderem deshalb knapp, da Gazprom es zuließ, dass seine beträchtlichen Lagerbestände in der Region ungewöhnlich niedrig waren. Der Konzern beschränkte seine Pipeline-Lieferungen auf die vertraglich zugesicherten Mengen. Russland erklärte, dass es dem heimischen Bedarf Vorrang einräumt. Aber Präsident Wladimir Putin stellte klar, dass eine schnelle Genehmigung der umstrittenen Gaspipeline Nord Stream 2 dazu beitragen würde, den europäischen Markt wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Das verschärft die Befürchtungen, dass Moskau Energie als Waffe einsetzen könnte.

Die Gaskrise, die mit den neuen Spannungen zwischen Russland und der Ukraine zusammenfällt, hat die Energiesicherheit wieder auf die Tagesordnung gesetzt. So hat die EU neue Regeln vorgeschlagen, um die Gasspeicherung zu verbessern und den gemeinsamen Kauf von strategischen Vorräten zu ermöglichen. Das Interesse an langfristigen Lieferverträgen nimmt zu, und EU-Beamte sprechen mit Aserbaidschan, Katar und den USA über zusätzliche Lieferungen, wobei allerdings die Unternehmen die Verträge unterzeichnen und nicht die Staatengemeinschaft.


 
Deutschland dürfte Trumpf der "Pipeline-Diplomatie" nicht opfern wollen 
 

Europas Green Deal, der wahrscheinlich Gas als Übergangskraftstoff gegenüber umweltschädlicheren Alternativen vorsieht, erhält durch diese Krise ebenfalls Auftrieb. Es gibt Bestrebungen, die Genehmigungszeiten für die Entwicklung erneuerbarer Energien zu verkürzen, Stromabnahmeverträge stärker zu fördern und Energieeffizienzmaßnahmen wie Gebäudesanierungen zu beschleunigen. Gazprom hat außerdem seinen Kundenstamm mit LNG-Terminals und einer Pipeline nach China und in die Türkei diversifiziert, und weitere Pläne sind in Arbeit. Europa und Russland arbeiten daran, ihre gegenseitige Abhängigkeit zu verringern, was Gasexporteuren in den USA und anderswo zugutekommen könnte. Dennoch wird Deutschlands hartnäckiges Vertrauen in die "Pipeline-Diplomatie" wahrscheinlich zu einem Tempo der Veränderungen führen, das Washington frustriert.

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February 07, 2022 10:19 ET (15:19 GMT)