KIEW (dpa-AFX) - Die Ukraine nimmt in ihrem Abwehrkampf gegen die russische Invasion die Rüstungsindustrie des Gegners stärker ins Visier. Das sagte Präsident Wolodymyr Selenskyj, nachdem er mit seiner Führung einen Bericht zur Lage in Russlands militärisch-industriellem Komplex gehört hatte. "Wir können deutlich erkennen, in welchen Bereichen der Druck auf Russland verstärkt werden muss, um zu verhindern, dass die terroristischen Fähigkeiten wachsen", sagte der Präsident. Einzelheiten nannte er nicht.

Die Ukraine wehrt sich seit mehr als 19 Monaten gegen den russischen Angriffskrieg, nach Zählung der Militärs ist am Mittwoch der 581. Kriegstag. Der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius wird am Mittwoch an einer Sicherheitskonferenz in der estnischen Hauptstadt Tallinn teilnehmen. Erwartet wird, dass der SPD-Politiker auch den weiteren Kurs Deutschlands in der Sicherheitspolitik absteckt.

Kommen Angriffe auf russische Rüstungsfabriken?

Ausländische Sanktionen gegen die russische Rüstungsbranche seien nicht genug, sagte Selenskyj in seiner Videoansprache vom Dienstagabend. "Es wird mehr eigene, ukrainische Maßnahmen gegen den terroristischen Staat geben", drohte er. "Solange Russlands Aggression anhält, muss Russland seine Verluste spüren."

Moskau hat wegen des Angriffskrieges gegen die Ukraine die Rüstungsproduktion hochgefahren. Kiew ist besorgt, weil die russische Industrie sich trotz der Sanktionen immer noch Elektronikbauteile aus anderen Ländern verschaffen kann. Es hat im Verlauf des Krieges immer wieder rätselhafte Brände in russischen Fabriken und Anlagen gegeben, die der Rüstungsbranche zugeordnet werden - teilweis auch im Inland weit von der ukrainischen Grenze entfernt.

Hauptsorge Munition

Der engste Führungkreis in Kiew beschäftigte sich nach Angaben Selenskyjs auch mit dem Nachschub von Artilleriemunition. "Das ist ein Thema, mit dem wir täglich zu tun haben", sagte er. Die Lieferungen der bisherigen Partnerländer seien wichtig. Zugleich suche die Ukraine neue Quellen. "Und wir erhöhen schrittweise das Volumen unserer ukrainischen Produktion."

Gegen die traditionell starke russische Artillerie hat die Ukraine mit Hilfe neuer Geschütze aus westlichen Ländern an einigen Frontabschnitten eine Überlegenheit an Feuerkraft erreicht. Der Nachschub an Munition ist indes immer wieder knapp.

Kiewer Militärchef verabschiedet sich von US-Kollegen

Um die Lieferung von Munition und anderen Rüstungsgütern ging es auch im Abschiedsgespräch des ukrainischen Oberkommandierenden Walerij Saluschnyj mit seinem scheidenden US-Kollegen Mark Milley. "Unsere Soldaten habe keine einzige Stellung verloren", berichtete Saluschnyj demnach. "An einigen Stellen rücken wir trotz heftiger Gegenwehr des Feindes weiter vor." Der Ukrainer dankte Milley für die Unterstützung und Zusammenarbeit. An dem Gespräch nahm den Angaben nach auch Milleys künftiger Nachfolger an der Spitze der US-Streitkräfte teil, General Charles Brown.

Ukrainische Angriffe auf russische Energieinfrastruktur

In der russischen Grenzregion Kursk wurden nach einem ukrainischen Drohnenangriff am Dienstag mindestens sieben Dörfer vom Stromnetz abgeschnitten. Eine Drohne habe einen Sprengsatz auf ein Umspannwerk im Dorf Snagost etwa 15 Kilometer von der ukrainischen Grenze abgeworfen. Das schrieb der Gouverneur der Region, Roman Starowojt, auf Telegram. Verletzt wurde demnach niemand.

Der ukrainische Geheimdienst SBU bestätigte einheimischen Medien den Drohnenangriff. "Die Russen sollten sich darüber im Klaren sein, dass sie eine harte Reaktion erhalten werden, wenn sie weiterhin ukrainische Energieanlagen angreifen", wurde ein Mitarbeiter zitiert.

Im vergangenen Winter versuchte Moskau die Ukraine durch systematisches Bombardement auf das Energiesystem in die Knie zu zwingen. Das angegriffene Land hielt die Versorgung der Menschen mit Strom, Heizung, Gas und Wasser nur unter größter Mühe aufrecht. In diesem September haben die Russen erneut damit begonnen, die ukrainische Energiestruktur anzugreifen.

Sieben Schiffe nutzten ukrainischen Korridor im Schwarzen Meer

Aus ukrainischen Schwarzmeerhäfen sind seit Mitte August bislang sieben Schiffe trotz einer vermeintlichen russischen Seeblockade ausgelaufen. Fünf davon hätten dort seit Kriegsbeginn im Februar 2022 festgesteckt, teilte der Sprecher der ukrainischen Marine, Dmytro Pletentschuk, in Odessa mit. Zwei weitere Frachter seien in die Ukraine gekommen, hätten Getreide geladen und seien wieder ausgelaufen.

Russland hatte im Juli Sicherheitsgarantien für Schiffe auslaufen lassen, die Getreide aus drei Schwarzmeerhäfen der Ukraine abholen. Moskau drohte, alle Schiffe als feindlich zu betrachten, die die Ukraine ansteuern. Die Ukraine hat ihrerseits einen Seekorridor für Frachter ausgewiesen. Es gebe ein Restrisiko durch russische Raketen und Flugzeuge, sagte Pletentschuk. Russische Marineschiffe wagten sich aber aus Angst, getroffen zu werden, nicht mehr in die Nähe des Schifffahrtsweges.

Das wird am Mittwoch wichtig

Das russische Verteidigungsministerium hat ein Video veröffentlicht, das den angeblich getöteten Flottenchef Viktor Sokolow lebend zeigen soll. Dazu werden Analysen von Experten erwartet, denn ganz eindeutig ist das Bildmaterial von einer Sitzung mit Verteidigungsminister Sergej Schoigu nicht. Admiral Sokolow soll letzte Woche bei einem ukrainischen Treffer auf das Hauptquartier der Schwarzmeerflotte in Sewastopol getötet worden sein.

An der Sicherheitskonferenz in Tallinn ("Annual Baltic Conference on Defence/ABCD") nehmen Vertreter der baltischen Republiken sowie aus weiteren Nato-Staaten und aus der Ukraine teil. Die Rede von Minister Pistorius dort beschließt auch seinen dreitägigen Besuch in Lettland und Estland./fko/DP/zb