Von Laurence Norman

LONDON (Dow Jones)--Die EU will Kernenergie und Erdgasinvestitionen in den kommenden Jahren mit erneuerbaren Energien gleichstellen. Dadurch soll eine kohlenstoffneutrale Wirtschaft erreicht werden. Dieser Ansatz stößt jedoch bei einigen Regierungen der EU auf Kritik. Der Empfehlungsentwurf, der noch vom EU-Rat und dem EU-Parlament gebilligt werden muss, unterstreicht eine schwerwiegende politische Kontroverse. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass in Europa Umweltpolitik zur Verhinderung des Klimawandels breite öffentliche Unterstützung findet.

Der Vorschlag der EU-Kommission sieht Änderungen in Bezug darauf vor, was als Investition in umweltverträgliche Energie gilt. Der als "grüne Taxonomie" bekannte Vorschlag wird von Investoren und Branchen wie der Energieerzeugung, dem Transportwesen und dem verarbeitenden Gewerbe aufmerksam verfolgt. Europa braucht massive Investitionen, um sein Ziel für eine CO2-neutrale Wirtschaft bis 2050 zu erreichen. Im Jahr 2019 schätzte die Kommission, dass in den kommenden Jahrzehnten zusätzliche jährliche Investitionen in Höhe von 175 bis 250 Milliarden Euro erforderlich sein werden, um das Ziel zu erreichen. Der Großteil davon wird aus dem privaten Sektor kommen müssen.


 
Freie Wahl für EU-Mitgliedsländer beim Energie-Mix 
 

Die EU möchte durch eine klare Klassifizierung dessen, was als grüne Investitionen gilt, und durch die Festlegung strengerer Regeln für die dafür erforderlichen Maßnahmen Investitionen in grüne Projekte fördern. Außerdem will sie so deren Finanzierungskosten im Vergleich zu anderen Energieplänen senken. Nach EU-Recht kann jedes Land seinen eigenen Energiemix haben. Die Taxonomievorschriften haben weder darauf einen Einfluss noch auf die Verwendung öffentlicher Gelder für verschiedene Energiequellen. Die Festlegungen verlangen jedoch von den Energieunternehmen, dass sie sich von kohlenstoffemittierenden Energiequellen abwenden. Und Unternehmen, die Finanzprodukte verkaufen, sollen die Auswirkungen ihrer Investitionen auf ökologisch nachhaltige Produkte detailliert offenlegen, einschließlich des Anteils ihrer Investitionen, der in grüne Projekte fließt.

Die Änderungen der Kommission kommen in einer Zeit, in der die Klimaziele der EU angesichts steigender Strompreise zunehmend in Frage gestellt werden. Europa hat sich verpflichtet, seine Kohlenstoffemissionen bis 2030 um 55 Prozent zu senken. In den vergangenen Monaten hat Frankreich die Aufnahme der Kernenergie, seiner wichtigsten Stromquelle, in die Liste der grünen Investitionen vorangetrieben, obwohl Deutschland sich vehement gegen deren Nutzung wehrt. Eine Reihe von Ländern in Ost- und Südeuropa hat derweil die Kommission gedrängt, Investitionen in die Erdgasversorgung nicht zu behindern. Die EU importiert drei Viertel ihres Erdgasbedarfs, eine Energiequelle, die weniger Kohlenstoffemissionen verursacht als Kohle.


 
Kernkraft soll bis 2045 als "grün" eingestuft werden 
 

Den Vorschlägen zufolge können Investitionen in Atomreaktoren bis 2045 als umweltfreundlich eingestuft werden, während Investitionen zur Verlängerung der Laufzeit bestehender Kernkraftwerke bis 2040 als nachhaltig gelten können. Es werden jedoch Bedingungen gestellt. Kernkraftwerke müssen nachweisen, dass sie und ihre Regierungen Pläne für den Umgang mit giftigen nuklearen Abfällen und für die Kosten der Stilllegung von Anlagen in der Zukunft haben. Erdgasinvestitionen können bis mindestens 2030 als umweltfreundlich eingestuft werden, sofern ihre Kohlenstoffemissionen unter einem festgelegten Schwellenwert liegen, der schätzungsweise keine wesentlichen Umweltschäden verursacht. Selbst dann müssen die Stromunternehmen nachweisen, dass sie in den kommenden Jahren einen wachsenden Anteil ihrer Energie aus erneuerbaren Quellen erzeugen.

Der deutsche Vizekanzler sowie Minister für Wirtschaft und Klima, Robert Habeck pocht darauf, dass der Vorschlag der Kommission abgelehnt wird. "Es ist ohnehin fraglich, ob dieses Greenwashing auf den Finanzmärkten überhaupt Akzeptanz finden wird", argumentiert er. Nach der Katastrophe im japanischen Atomkraftwerk Fukushima im Jahr 2011 hat Deutschland Pläne zur Abkehr von der Kernenergie vorgelegt. Habecks grüne Partei hat sich stets stark gegen die Kernenergie ausgesprochen, die keine Treibhausgase ausstößt. Österreichs Klimaministerin Leonore Gewessler sagte, die Regierung werde ein Rechtsgutachten einholen, um die Kommission zu verklagen, wenn sie ihren Vorschlag wie empfohlen umsetze.


 
Orban wettert gegen EU-Pläne 
 

Der Vorschlag der Kommission wird in den kommenden Tagen Gegenstand von Rückmeldungen der Regierungen sein, was zu Änderungen führen könnte. Nach der Genehmigung durch die Kommission haben die EU-Regierungen und das Europäische Parlament vier Monate Zeit, den Vorschlag zu billigen. Die Klassifizierung der grünen Energie ist nur eines von mehreren Elementen der Klimapläne der Kommission, die unter politischen Beschuss aus den EU-Hauptstädten geraten sind.

Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban hat die Kommission kritisiert und Widerstand gegen Brüssels Pläne angekündigt, das Emissionshandelssystem auf den Verkehrs- und Wohnungssektor auszuweiten. Es gab auch Forderungen an die Kommission, in den Markt für Emissionszertifikate einzugreifen, um das zu verhindern, was Kritiker als Spekulation bezeichnen. Die Befürworter der EU-Klimapläne sind der Ansicht, dass der rasche Ausbau erneuerbarer, sauberer Energieressourcen nicht nur den Klimawandel bekämpfen kann. Vielmehr ließen sich so auch die Kosten für die Verbraucher senken und die geopolitische Unabhängigkeit der EU erhöhen, da die Gemeinschaft auf diese Weise weniger abhängig von Energieexporteuren wie Russland wäre.

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January 04, 2022 10:02 ET (15:02 GMT)