Von Hans Bentzien

FRANKFURT (Dow Jones)--Der überraschend starke Anstieg der Energiepreise ist ein wichtiger Grund dafür, dass der Inflationsdruck im Euroraum in den vergangenen Monaten durchgängig höher gewesen ist als Ökonomen das erwartet hatten - einschließlich jene der Europäischen Zentralbank (EZB). Im Dezember kletterte die Inflationsrate auf ein Rekordhoch von 5,0 (November: 4,9) Prozent, anstatt wie erwartet auf 4,7 Prozent zurückzugehen. Die Energiepreise stiegen mit einer Jahresrate von 26 Prozent.

In ihren im Dezember veröffentlichten Prognosen sagten die EZB-Volkswirte voraus, dass die Inflation 2023 und 2024 wieder unter 2 Prozent liegen werde. Sie begründen das unter anderem auf der Annahme, dass die Energiepreise, wie von den Futures vorgezeichnet, in keinem der beiden Jahre einen Teuerungsbeitrag leisten werden.


   Schnabel: Höherer CO2-Preis ist Aufwärtsrisiko für Inflation 

EZB-Direktorin Isabel Schnabel hat diese Sicht jetzt angegriffen und ihre Einschätzung bekräftigt, dass der Kampf gegen den Klimawandel zu höheren CO2-Preisen führen müsse, was ein Aufwärtsrisiko für die Inflation darstelle. Chefvolkswirt Philip Lane äußerte sich in dieser Hinsicht vorsichtiger und betonte, dass auf den für Europa wichtigen Gaspreis eine Fülle verschiedener Kräfte wirke, und zwar nicht nur in eine Richtung.

"Der Rückgang der Gesamtinflation auf unter 2 Prozent am Ende des Projektionszeitraums hängt von der aus den Terminkurven abgeleiteten Annahme ab, dass der Energiesektor in den Jahren 2023 und 2024 voraussichtlich nicht zur Gesamtinflation beitragen wird", sagte Schnabel bei einem Vortrag am Sonntag laut veröffentlichtem Text. Die Geschichte zeige aber, dass ein solches Profil ungewöhnlich wäre.

Nach ihrer Aussage hat der Energiesektor seit 1999 im Durchschnitt 0,3 Prozentpunkte zur jährlichen Gesamtinflation beigetragen. Und eine von Experten des Eurosystems durchgeführte Sensitivitätsanalyse deute darauf hin, dass schon ein Ölpreis, der auf dem Niveau von November bleibe, zum Erreichen des Inflationsziels bis 2024 ausreiche. "Angesichts des Umfangs der Energiewende und der politischen Entschlossenheit, die dahinter steht, könnten sich diese Schätzungen als konservativ erweisen", fügte sie hinzu.


   Teuerungsbeitrag der Energie könnte noch zunehmen 

Möglicherweise länger anhaltende Ungleichgewichte zwischen Angebot und Nachfrage bei "Übergangskraftstoffen" wie Gas sowie die Tatsache, dass die Kohlenstoffpreise wahrscheinlich weiter steigen und sich auf weitere Sektoren ausbreiten dürften, bedeuten aus ihrer Sicht, dass der Beitrag der Energie- und Strompreise zur Verbraucherpreisinflation mittelfristig über und nicht unter seiner historischen Norm liegen könnte.

Lane betonte in einem am Freitag veröffentlichten Interview mit RTE dagegen, dass die hohen Energiepreise nicht nur ein Inflations-, sondern auch ein Wachstumsproblem seien. Das bedeutet, dass sie die Inflation tendenziell bremsen. Diese Sichtweise vertritt auch EZB-Präsidentin Christine Lagarde. "Natürlich müssen wir über die Auswirkungen auf die Inflation nachdenken, aber die europäische Wirtschaft ist ein großer Energieimporteur. Insgesamt ist es ein großes wirtschaftliches Problem, dass Europa so viel mehr für Energieinputs bezahlen muss", sagte Lane.


   Lane: Energiepreise steigen nicht mehr so stark wie 2022 

Der EZB-Chefvolkswirt trat der Befürchtung entgegen, dass die Energiepreise weiter ungebremst steigen könnten. "Die Tatsache, dass die Preise so stark gestiegen sind, bedeutet - verglichen mit der Steigerungsrate des vergangenen Jahres - dass es in diesem Jahr wahrscheinlich weniger Aufwärtspotenzial gibt", sagte er. Zwar räumte er ein, dass die EZB "geopolitische Faktoren" im Auge behalten müsse, er hofft aber auf der anderen Seite, dass es zu einer "Umleitung von Flüssigerdgas aus der ganzen Welt nach Europa" kommen wird.

Einig sind sich die beiden EZB-Direktoren darin, dass nun beobachtet werden müsse, ob es zu so genannten Zweitrundeneffekten über die Löhne kommt. Schnabel sieht diese Gefahr durchaus und verweist auf die in den 1970er Jahren vom Energiesektor ausgelöste Lohn-Preis-Spirale. Lane dagegen äußerte sich zuversichtlich, dass die Inflation 2023 und 2024 unter 2 Prozent liegen werde. Dafür sprächen das Verhalten von Konsumenten, Unternehmen und Finanzmärkten.

Kontakt zum Autor: hans.bentzien@dowjones.com

DJG/hab/mgo

(END) Dow Jones Newswires

January 10, 2022 08:01 ET (13:01 GMT)