Von Andreas Kißler

BERLIN (Dow Jones)--Der Fachkräftemangel wird nach einer neuen Studie der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK) zum immer drängenderen Problem der deutschen Wirtschaft. Im jüngsten DIHK-Fachkräftereport gaben mehr als die Hälfte von fast 22.000 Unternehmen an, nicht alle offenen Stellen besetzen zu können, wie die Kammerorganisation mitteilte. Dies sei ein Rekordwert. Die DIHK sehe deshalb neben der Wettbewerbsfähigkeit der Betriebe auch die Umsetzung wichtiger Transformationsaufgaben in Gefahr.

Der aktuellen Umfrage von Ende 2022 zufolge hätten sich die Stellenbesetzungsschwierigkeiten in den Unternehmen im Vorjahresvergleich nochmals verschärft - und das, obwohl die Betriebe vielfach ein wirtschaftlich schwieriges Jahr erwarteten und ihre Personalplanung heruntergeschraubt hätten. "Wir gehen davon aus, dass in Deutschland rund zwei Millionen Arbeitsplätze vakant bleiben", sagte der stellvertretende DIHK-Hauptgeschäftsführer Achim Dercks bei der Vorstellung der Umfrageergebnisse. "Das entspricht einem entgangenen Wertschöpfungspotenzial von fast 100 Milliarden Euro."

Die derzeit noch stabile Arbeitsmarktentwicklung und die vielen offenen Stellen dürften nicht zu dem Fehlschluss verleiten, alles laufe relativ rund und den meisten Unternehmen gehe es gut, warnte Dercks. "Unter der Oberfläche braut sich seit geraumer Zeit eine gefährliche Mischung zusammen." Der Fachkräftemangel koste Wertschöpfung und erhöhe beispielsweise die Herausforderungen zur Finanzierung der öffentlichen Haushalte. In Kombination mit hohen Energiepreisen und den Herausforderungen der Transformation in Richtung Klimaneutralität könnten die immer größeren Personalengpässe bis hin zur Verlagerung von Produktion und Dienstleistungen ins Ausland führen.

"Das Fehlen von Fachkräften belastet nicht nur die Betriebe, sondern gefährdet auch den Erfolg bei wichtigen Zukunftsaufgaben: Energiewende, Digitalisierung und Infrastrukturausbau", sagte Dercks. "Für diese Aufgaben brauchen wir vor allem Menschen mit praktischer Expertise." Die aber seien rar wie nie zuvor. Über alle Branchen hinweg sehen sich den Umfrageergebnissen zufolge 53 Prozent der Betriebe von Personalengpässen betroffen, in der Industrie und in der Bauwirtschaft sind es jeweils 58 Prozent. Während die Fachkräftelücke in den Industrieunternehmen gegenüber Herbst 2021 nochmals größer geworden sei, habe sie sich beim Bau etwas abgeschwächt.


Hersteller elektrischer Ausrüstungen besonders betroffen 

Bedenklich mit Blick auf die Zukunft sei, dass Stellenbesetzungsprobleme besonders stark die für die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie bedeutsamen Investitionsgüterproduzenten (65 Prozent) sowie Hersteller von Spitzen- und Hochtechnologie (jeweils 63 Prozent) träfen. So könnten beispielsweise 67 Prozent der Hersteller elektrischer Ausrüstungen Stellen nicht besetzen; bei den Produzenten von Datenverarbeitungsgeräten, elektronischen und optischen Erzeugnissen gelte dies für 63 Prozent, im Maschinenbau für 67 Prozent und im Fahrzeugbau für 65 Prozent der Betriebe.

Das beeinträchtige wichtige Transformationsaufgaben wie Elektromobilität oder erneuerbare Energien. Auch die Engpässe in baurelevanten Bereichen wie den Architektur- und Ingenieurbüros (58 Prozent) dürften die Zielerreichung etwa bei klimagerechter Sanierung, der Installation von Windkraftanlagen, beim Wohnungsbau sowie bei Erhalt und Ausbau von Verkehrs- und Kommunikationsinfrastruktur erschweren. Mit an der Spitze der von Engpässen besonders betroffenen Branchen stehen laut der Umfrage zudem weiterhin die Gesundheits- und Sozialdienstleister, von denen 71 Prozent Stellenbesetzungsprobleme meldeten.

Im Bereich Verkehr und Lagerei suchen demnach 65?Prozent der Unternehmen vergeblich nach Personal. "Das Fehlen von Fahrern bei den Logistikbetrieben erschwert zunehmend die pünktliche Belieferung mit Endprodukten im Handel, aber auch mit Rohstoffen und Vorleistungen in der Industrie", erklärte Dercks. Im Gastgewerbe berichteten 60 Prozent der Betriebe von Personalengpässen. Das bedeute zwar eine leichte Entspannung gegenüber dem Vorjahr, gehe vielfach aber auch einher mit eingeschränkten Angeboten und reduzierten Öffnungszeiten.?

Am häufigsten scheitern die Unternehmen mit Stellenbesetzungsschwierigkeiten laut der Umfrage bei der Einstellung von Fachkräften mit dualer Berufsausbildung (48 Prozent) und von Auszubildenden (39 Prozent). Auf die Frage, welche Rahmenbedingungen bei der Fachkräftesicherung helfen würden, nannten 52 Prozent den Bürokratieabbau und 46 Prozent eine Stärkung der beruflichen Bildung.

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January 12, 2023 05:09 ET (10:09 GMT)