Von Andreas Kißler

BERLIN (Dow Jones)--Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) blickt nur mit "verhaltener Zuversicht" auf die wirtschaftliche Erholung in der Industrie. Für Deutschland erwarte der BDI in diesem Jahr einen Zuwachs des Bruttoinlandsproduktes in einer Größenordnung von 3,5 Prozent nach 2,5 Prozent im vergangenen Jahr, sagte BDI-Präsident Siegfried Russwurm bei einer Online-Pressekonferenz. "Gründe für diese vorsichtige Einschätzung sind neben Beeinträchtigungen des Wirtschaftslebens durch die Pandemie die Lieferengpässe", erklärte er.

Selbst diese vorsichtige Schätzung sei aber "noch risikobehaftet". Der Aufschwung komme nicht richtig in Fahrt. "Die Auftragsbücher sind relativ voll, die Produktion hält jedoch nicht mit der Nachfrage Schritt." Der BDI rechne in diesem Jahr mit einem Produktionsanstieg in der Industrie von rund 4,5 Prozent. Damit liege das Produktionsniveau dieses Jahr insgesamt noch um rund 6 Prozent unter dem von 2018. Die deutschen Exporte würden 2022 gegenüber dem Vorjahr wohl um 4 Prozent zulegen - und damit gerade einmal halb so viel wie im vergangenen Jahr.

Russwurm warnte, der Wirtschaft könne "ein weiteres Stop-and-Go-Jahr" drohen. Die Industrie sehe sich mit massiven Störungen ihrer globalen Lieferketten konfrontiert. Viele Betriebe in der Automobil-, der Elektroindustrie oder im Maschinenbau litten unter Lieferengpässen. "Diese Engpässe bremsen die industrielle Wertschöpfung in den Jahren 2021 und 2022 um jeweils mehr als 50 Milliarden Euro aus", sagte Russwurm. "Trotz voller Auftragsbücher werden fehlende Mikrochips, Bauteile und Rohstoffe die Produktion noch längere Zeit beeinträchtigen."

Angesichts der Risiken sei die Wirtschaft umso mehr auf Verlässlichkeit und Berechenbarkeit angewiesen. "Oberste politische Priorität muss in diesem Jahr die Stärkung des Industrie-, Export- und Innovationstandorts haben", forderte der BDI-Präsident. "Denn die Industrie ist auch 2022 der Motor, der Wirtschaft und Wohlstand unseres Landes antreibt." Eine Rückkehr zum Vorkrisenniveau reiche nicht aus. Die Politik müsse "den Negativtrend der vergangenen Jahre umkehren, über die Krisenbewältigung hinaus die Schlagzahl erhöhen und einen Wachstumskurs einschlagen".


Koalition soll eigenem Anspruch gerecht werden 

Mit den richtigen Rahmenbedingungen bestehe die Chance, dass 2022 das Jahr mit der stärksten Wirtschaftsdynamik seit 2010 werde. "Jetzt ist es an der Zeit zu beweisen, wie viel Aufbruch tatsächlich in der Ampel steckt, und ob sie ihrem selbst gesetzten Anspruch als Fortschrittskoalition gerecht wird", betonte er. Hohe Energiekosten, schleppender digitaler Wandel, mangelnde Infrastruktur-Investitionen, lähmende Regierung und hohe Steuern - all das mache den Standort immer weniger attraktiv für Unternehmen aus dem In- und Ausland.

Die Omikron-Variante sei ein Risiko für die wirtschaftliche Erholung, warnte der BDI-Präsident. Für eine im internationalen Wettbewerb stehende Industrienation "braucht es dringend einen einheitlichen, evidenzbasierten Langzeitplan zur Eindämmung der Pandemie", forderte er. Vor allem verlangte er von der Corona-Politik in Bund und Ländern verlässlichere Daten. Für die viertgrößte Volkswirtschaft weltweit sei es völlig inakzeptabel, dass Gesundheitsämter nicht oder zu spät Zahlen übermittelten, Testzentren nicht auf Hochtouren arbeiteten oder systematisch erhobene Daten über Corona-Patienten auf Intensivstationen fehlten.

Die akute Corona-Krise dürfe sich keinesfalls zu einer chronischen Wirtschafts- und Gesellschaftskrise auswachsen. Komplexe Transformationen wie die Digitalisierung oder Dekarbonisierung ließen sich nur mit der Wirtschaft gestalten. Mit Blick auf die Klimaneutralität bis 2045 forderte der BDI-Präsident mehr staatliches Engagement. "Die Regierung muss dafür sorgen, dass sich die Investitionen der Unternehmen und der Bürgerinnen und Bürger in Klimaschutz wieder lohnen - mit Superabschreibungen, einem massiven und schnellen Infrastrukturausbau und schnelleren Planungs- und Genehmigungsverfahren."

Bei der Umsetzung der Energiewende müsse man "ab sofort in Monaten statt in Jahren denken", mahnte Russwurm. Er forderte die Bundesregierung zudem auf, sich bei der vor wenigen Tagen gestarteten deutschen G7-Präsidentschaft für mehr internationale Zusammenarbeit im Kampf gegen den Klimawandel einzusetzen, etwa durch die Gründung von Klimaclubs. Deutschland bleibe ein Importland für Energie, selbst wenn die Energieträger langfristig CO2-neutral sein würden. Strategische Souveränität und Nicht-Erpressbarkeit blieben auch in dieser Dimension eine Kernaufgabe deutscher Außen- und Wirtschaftspolitik.

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January 13, 2022 04:41 ET (09:41 GMT)