Von Rochelle Toplensky

LONDON (Dow Jones)--Die EU-Kohlenstoffzertifikate sind weniger eine Ware als vielmehr ein politisches Instrument. Das hat im vergangenen Jahr zu einer atemberaubenden Rally geführt, aber es begrenzt auch das Potenzial des Marktes für Finanzspekulationen. Das EU-Emissionshandelssystem (ETS) ist der weltweit größte regulierte Markt für Kohlenstoffzertifikate. Jährlich müssen europäische Umweltverschmutzer in ausgewählten Industriezweigen, vor allem in der Stromerzeugung, für jede Tonne Kohlendioxid, die sie ausstoßen, einen Kreditpunkt erwerben. Eine abnehmende Zahl von solchen Zertifikaten wird zugeteilt, der Rest wird versteigert. Anfänglich waren die Marktpreise rückläufig, doch seit einer Reform im Jahr 2018 steigen sie wieder. Zuletzt wurden sie mit 82 Euro gehandelt gegenüber nur 34 Euro vor einem Jahr.

Das Gesamtangebot an Kreditpunkten, das die Industrie zum Umweltschutz ermutigen soll, wird jährlich schrumpfen, und es wird erwartet, dass die Nachfrage zumindest in naher Zukunft mit zunehmender Elektrifizierung und der Verlängerung des Programms steigt. Das klingt nach einem Rezept für eine Wette, die nur in eine Richtung geht, und es gab Gerüchte über eine Art "Short Squeeze", bei dem sich Unternehmen zu Käufen eines schrumpfenden Kreditpunktebestands gezwungen sehen. Die Anleger sollten jedoch bedenken, dass die Politik das Angebot auch in die andere Richtung lenken könnte. Obwohl sie wie eine Ware gehandelt werden, handelt es sich bei Kohlenstoffgutschriften um ein Konzept, nicht um ein materielles Gut. Die Marktregeln können angepasst werden, wenn der Preis nicht den EU-Zielen entspricht.


   Emissionsmarkt als zentrales EU-Dekarbonisierungsinstrument 

Zusammen mit einer strengeren Regulierung und "Green Deal"-Subventionen sind die Kohlenstoffkosten ein wichtiges Instrument der EU zur Dekarbonisierung ihrer Wirtschaft. Viele gehen davon aus, dass der Preis für Emissionsgutschriften irgendwann auf über 100 Euro pro Tonne steigen wird, um so zusätzliches Geld für die Finanzierung des Übergangs zu generieren. Europa sieht die Dekarbonisierung als Chance, die Führung in der nächsten industriellen Revolution zu übernehmen, und als ökologische Notwendigkeit.

Mit diesem Ziel vor Augen funktioniert das ETS so gut, dass die EU es ausbaut. Kürzlich schlug sie einen "Kohlenstoff-Grenzausgleichsmechanismus" vor, um ihren Kohlenstoffpreis auf einige Importe aus Regionen zu erheben, in denen Kohlenstoff nicht besteuert wird. Außerdem wird der Markt ausgeweitet. Es wird erwartet, dass die Schifffahrt in das bestehende Emissionshandelssystem einbezogen wird, während für Gebäude und Verkehr ein neues System ausgearbeitet wird. Damit will die EU den unterschiedlichen Kosten und Herausforderungen Rechnung tragen.


   Wettbewerbsfähigkeit als eine heilige Kuh der EU 

Entscheidend für die EU ist jedoch auch, dass die Unternehmen in der Übergangsphase wettbewerbsfähig bleiben. Deswegen ist das ETS noch in der Entwicklung. Die EU-Entscheidungsträger werden wahrscheinlich eingreifen, wenn der Zielkonflikt zwischen Dekarbonisierung und Wettbewerbsfähigkeit zu einem Problem wird. Momentan erlauben die bestehenden Vorschriften die Zuteilung zusätzlicher Zertifikate, wenn der Preis sechs Monate lang das Dreifache des Durchschnitts der vorangegangenen zwei Jahre übersteigt. Aber sechs Monate sind eine lange Zeit, und wenn der Kohlenstoffpreis so stark ansteigt, dass er die industrielle Basis bedroht, könnte die EU die Regeln ändern.

Normalerweise dauert die Entscheidungsfindung in der EU Jahre, aber in einigen Krisen hat die Union schnell gehandelt. Himmelhohe Emissionspreise würden wahrscheinlich als Krise gelten. Die Energiekosten sind ein heißes Eisen, vor allem seit den Gelbwesten-Protesten 2018 in Frankreich. Und die Beamten haben andere Instrumente eingesetzt, um die Energiekrise dieses Winters zu bewältigen, vor allem da sie voraussichtlich nur vorübergehend ist und die Kohlenstoffemissionspreise nicht die Ursache waren. Deutlich höhere Kohlenstoffpreise, insbesondere wenn sie auf Spekulationen zurückzuführen sind, würden wahrscheinlich eine andere Reaktion auslösen. Es ist klug, dass Investoren europäische ETS-Gutschriften nutzen, um sich gegen steigende Kohlenstoffkosten abzusichern und auf den grünen Wandel zu setzen, aber es gibt Grenzen. Wenn zu viele versuchen, sich in das System zu drängen, könnte das die Partystimmung äußerst vermiesen.

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January 11, 2022 10:06 ET (15:06 GMT)