CHICAGO (dpa-AFX) - Der Luftfahrtkonzern Boeing steuert von einer Existenzkrise in die nächste. Nach den tödlichen Abstürzen und dem Startverbot für den Mittelstreckenjet 737 Max bricht dem US-Konzern nun infolge der Corona-Pandemie die Nachfrage nach seinen Flugzeugen weg. Zudem werfen Produktionsmängel beim Langstreckenjet 787 "Dreamliner" weiteres schlechtes Licht auf die Geschäftspolitik des lange Zeit größten Flugzeugbauers der Welt. Was bei Boeing los ist, was Analysten sagen und was die Aktie macht.

DAS IST LOS BEI BOEING:

Vor anderthalb Jahren wurde Boeings jahrelanger Höhenflug schlagartig gestoppt. Eben noch war der Konzern der weltgrößte Hersteller von Verkehrsflugzeugen. Die wichtigsten Passagierjet-Typen verkauften sich bestens. Doch dann holten den US-Konzern seine Fehler der Vorjahre ein - als er versucht hatte, dem Erfolg seines europäischen Rivalen Airbus mit einer Neuauflage des Passagierjets Boeing 737 etwas entgegenzusetzen.

Dann stürzten innerhalb weniger Monate zwei Exemplare der modernisierten "737 Max" ab, und 346 Menschen starben. Im März 2019 verhängten Luftfahrtbehörden in aller Welt Startverbote für den Flugzeugtyp. Airlines wie Ryanair und Tui verlangten Schadenersatz von dem Hersteller, weil dessen neue Steuerungssoftware MCAS als eine Hauptursache der Abstürze gilt.

Erst am Mittwoch warf der Untersuchungsausschuss des US-Repräsentantenhauses Boeing grobe technische Fehler und Verheimlichungen vor. Zudem habe die Luftfahrtbehörde FAA versagt. Der Hersteller hatte im Jahr 2011 überraschend die Modernisierung der seit den 1960er Jahren gebauten Boeing 737 angekündigt, nachdem Airbus dem US-Konzern mit seinem Konkurrenzmodell A320neo bereits wichtige Kunden abspenstig gemacht hatte.

Wie die A320neo versprach auch die Boeing 737 Max für Fluggesellschaften dank sparsamerer Triebwerke rentabler zu werden. Doch die riesigen Turbinen veränderten das Flugverhalten des Boeing-Modells in teils gefährlicher Weise. Und die Softwarelösung, die dieses Verhalten ausgleichen sollte, war nicht ausgereift.

Noch immer dürfen die rund 370 schon ausgelieferten Maschinen der Reihe nicht abheben. Und Boeing baute die 737 Max noch fast ein Jahr lang auf Halde, ohne dass dem entsprechende Einnahmen gegenüberstanden. Ende 2019 musste der langjährige Boeing-Chef Dennis Muilenburg abtreten, nachdem er versucht hatte, die FAA bei der Wiederzulassung öffentlich vor sich herzutreiben.

Für Boeing hat der Schaden längst eine zweistellige Milliardensumme erreicht. Schon vor Corona versuchte das Management deshalb das Geld zusammenzuhalten, stoppte Dividenden und Aktienrückkäufe. Der Konzern schrieb Verluste in Milliardenhöhe, und im März 2020 schöpfte er eine fast 14 Milliarden Dollar schwere Kreditlinie aus. Da begannen die Folgen der Pandemie die Luftfahrtbranche gerade erst zu erfassen.

Inzwischen ziehen die Kunden auch noch reihenweise Aufträge bei Boeing ab. Seit dem Jahreswechsel standen bei dem Hersteller zuletzt Neubestellungen über 67 Flugzeuge 445 Stornierungen gegenüber. Konkurrent Airbus konnte Stornierungen seit der Corona-Krise bis jetzt hingegen weitgehend vermeiden.

Doch die Folgen der Pandemie haben beide Konzerne längst erfasst. Branchenexperten sind sich einig, dass der weltweite Luftverkehr nach dem Einbruch in der Corona-Krise mehrere Jahre für eine Erholung brauchen wird. Und Fluggesellschaften benötigen derzeit kaum neue Maschinen. Die Boeing-Führung um den neuen Chef Dave Calhoun hat deshalb entschieden, mindestens rund 16 000 Arbeitsplätze abzubauen.

Die Produktion der Langstreckenjets der Reihen 777 und 787 "Dreamliner" wird im kommenden Jahr von 15 auf 8 Maschinen gekappt. Die Produktion der 737-Max-Reihe ist überhaupt erst im Mai wieder angelaufen. Bis Anfang 2022 will Boeing die Produktion zwar auf 31 Maschinen pro Monat hochfahren - was immer noch viel weniger wäre als vor dem Flugverbot. Doch dazu müssen Behörden wie die FAA und die EU-Luftfahrtaufsicht EASA erst einmal die Wiederzulassung erteilen. Die EASA hat gerade die Testflüge mit der überarbeiteten Maschine abgeschlossen. Eine Entscheidung steht noch aus.

Derweil bekommt Boeings Image weitere Kratzer - und das ausgerechnet beim Hoffnungsträger 787 "Dreamliner". Der Hersteller hat Produktionsmängel am Rumpf entdeckt, durch die das Material bei extremer Belastung ermüden könnte. Ein ähnliches Problem soll es beim Höhenleitwerk des Typs geben.

Boeing kündigte an, die Fehler bei denjenigen Maschinen, die noch nicht bei den Kunden sind, zu beheben. Doch möglicherweise ist ein Großteil der fast 1000 schon ausgelieferten "Dreamliner"-Maschinen von einem der Probleme betroffen. Die FAA schaut sich die Dinge bereits an. Folge könnte eine teure Rückrufaktion sein. Eine solche steht dem Konzern schon nach der Wiederzulassung der 737 Max bevor. Der FAA zufolge ist es aber noch zu früh, um über mögliche Konsequenzen für die Flugtauglichkeit des Jets zu spekulieren.

Vor sieben Jahren war der "Dreamliner" bereits einmal an der Reihe. Da waren die großen Akkus des damals noch neuen Flugzeugtyps in mehreren Fällen in Brand geraten. Schon damals mussten die Jets der Reihe mehrere Monate lang am Boden bleiben, bis Boeing eine technische Lösung für das Problem gefunden hatte.

DAS MACHT DIE AKTIE:

Jahrelang schien es für die Boeing-Aktie nach oben kaum Grenzen zu geben. Zwischen Anfang 2016 und März 2019 verdreifachte sich ihr Kurs von rund 143 Dollar auf gut 446 Dollar. Doch mit den Startverboten für die 737 Max war der Höhenflug der Aktie beendet.

Von einem Sturzflug konnte allerdings keine Rede sein. Der Kurs pendelte im Rest des Jahres 2019 in einer relativ weiten Spanne um Werte von 350 Dollar und hielt sich damit auf dem Niveau des Jahres 2018, als Boeing mehr als Erfolgsgarant denn als Krisenkonzern wahrgenommen wurde. Selbst als in der 737-Max-Affäre die Geschäftspolitik der Boeing-Führung immer mehr in Verruf geriet, sackte der Kurs nie unter 300 Dollar.

Erst infolge der Corona-Pandemie ging es richtig abwärts bis auf 89 Dollar Mitte März 2020. Wer zu diesem Zeitpunkt bei Boeing einstieg, konnte seinen Einsatz bis Juni mehr als verdoppeln, wenn er bei dem Zwischenhoch von rund 234 Dollar wieder ausstieg. Denn danach ging es wieder abwärts. Zuletzt wurde die Aktie zu knapp 168 Dollar gehandelt - und damit nur rund halb so hoch wie zum Jahreswechsel.

Wer zum Zeitpunkt des Rekordhochs von Anfang März 2019 an einen weiteren Höhenflug des US-Konzerns Boeing geglaubt hatte, hat seitdem mehr als 60 Prozent des investierten Geldes eingebüßt.

Ein schwacher Trost: Die Aktionäre des Konkurrenten Airbus hatten auch zu leiden. Der Kurs der Airbus-Aktie hat sich seit dem Jahreswechsel mit einem Minus von rund 45 Prozent nur wenig besser gehalten als der Kurs von Boeing. Seit dem Anfang 2020 erreichten Rekordhoch von 139,40 Euro steht ein Minus von rund 50 Prozent zu Buche.

Unterdessen wird Boeing an der Börse insgesamt immer noch deutlich höher bewertet als Airbus. Bei der Marktkapitalisierung liegen die Amerikaner mit knapp 95 Milliarden Dollar deutlich vor dem Rivalen, der umgerechnet auf rund 65 Milliarden Dollar kommt.

DAS SAGEN ANALYSTEN:

Trotz der Negativschlagzeilen und der trüben Aussichten in der Corona-Krise sind Branchenexperten der Boeing-Aktie eher zu- als abgeneigt. Das gilt jedenfalls, seit der Kurs auf ein Niveau gefallen ist, das er zuletzt vor mehr als drei Jahren innehatte.

Von den 29 Analysten, deren Einschätzungen zu Boeing die Nachrichtenagentur Bloomberg erfasst hat, raten 11 dazu, die Aktie zu kaufen. 13 Experten tendieren zum Halten, und nur 5 Analysten empfehlen, sich von dem Papier zu trennen. Dazu passen ihre Erwartungen an die Kursentwicklung. Im Schnitt schreiben sie der Boeing-Aktie ein Kursziel von rund 185 Dollar zu.

Allerdings liegen Erwartungen teils weit auseinander. So gehört Analyst David Strauss von der britischen Bank Barclays mit einem Kursziel von 125 Dollar zu den Pessimisten, die weitere Kursverluste erwarten. Dennoch rät er dazu, die Boeing-Aktie zu halten. Seine Kollegin Sheila Kahyaoglu vom Analysehaus Jefferies sieht die Aktie hingegen auf dem Weg von 270 Dollar. Sie rät dementsprechend zum Kauf.

Ihr Kollege Noah Poponak von der Investmentbank Goldman Sachs sah den Boden für die Boeing-Aktien schon Ende Juli bei knapp 160 Dollar erreicht. Denn darin seien extrem niedrige Erwartungen eingepreist. Er sieht die Aktie absehbar auf dem Weg zu 225 Dollar.

Unterdessen ziehen die jüngst bekannt gewordenen Qualitätsprobleme beim "Dreamliner" zwar die Aufmerksamkeit von Analysten der Bank of America auf sich. Ihrer Ansicht nach werfen die Neuigkeiten weitere Fragen rund um die Herstellungsqualität bei Boeing auf, wie sie vor wenigen Tagen schrieben. Allerdings erwarten die Analysten kaum Folgen für den Aktienkurs, denn sie bestätigten ihr Kursziel von 175 Dollar./stw/nas/men/zb