LLANRHYSTUD/BRÜSSEL (dpa-AFX) - "Cofiwch Dryweryn" (Erinnert euch an Tryweryn) steht auf einer Mauer in Llanrhystud nahe der walisischen Küste mit roter Farbe gepinselt. Stolze Waliser haben die mahnenden Worte inzwischen auch auf viele Steine, Gebäude und Plakate im Südwesten Großbritanniens geschrieben. Es ist ein Protest gegen die mächtige Regierung in London: Vor 55 Jahren wurden Waliser aus dem Tal Tryweryn zwangsumgesiedelt, weil ihre Region geflutet wurde. So entstand ein Wasserreservoir für das nahe Liverpool - in England.

Das Leid ist nicht vergessen und der Spruch in Brexit-Zeiten zum Symbol für das Unabhängigkeitsstreben des Landesteils geworden. Die Waliser haben zwar für den Brexit am 31. Januar gestimmt, aber immer mehr von ihnen dämmert es erst jetzt, was da auf sie zukommen könnte. Wenig Industrie, schlechte Böden: Der Landesteil mit seinen etwa drei Millionen Einwohnern wird auch Armenhaus des Vereinigten Königreichs genannt - und der EU-Austritt könnte die Lage noch verschlimmern.

Einer der Vorkämpfer für ein unabhängiges Wales und Kritiker des Austritts aus der Europäischen Union ist der Protestsänger und Politiker Dafydd Iwan, der bis 2010 Chef der walisisch-nationalen Partei Plaid Cymru (deutsch: Walisische Partei) war. Sie gehört dem Mitte-Links-Spektrum an. "Großbritannien hat sich nie wirklich als Teil der EU betrachtet", ist der 76-Jährige überzeugt. Wie viele andere Menschen in dem abgelegenen Landesteil geht er auf Distanz zu England. Aber warum hat dann Wales für den Brexit gestimmt?

"Den meisten Menschen in Wales ist nicht klar, wie stark wir von der EU-Unterstützung profitiert haben. Aber das Brexit-Referendum war auch eine Protestwahl gegen jene, die an der Macht waren", so Iwan. Inzwischen treibe der EU-Austritt die Unabhängigkeitsbewegung an. "Viele denken nun, dass ein unabhängiges Wales nicht schlechter sein könne als eine Regierung unter Boris Johnson." Es habe bereits große Kundgebungen in verschiedenen Städten des Landesteils für die Loslösung vom Königreich gegeben; die nächste sei im April geplant.

Besonders die Bauern in Wales fürchten um ihre Existenz. "Wales bekommt jährlich etwa 680 Millionen britische Pfund (etwa 800 Millionen Euro) von der Europäischen Union. 80 Prozent der Einkommen der walisischen Bauern stammen von der EU", sagte Elizabeth Saville Roberts, die seit 2015 als Abgeordnete von Plaid Cymru im britischen Parlament sitzt. "Im Brexit-Prozess hat die Regierung wenig oder gar keine Beachtung für Wales gezeigt." Die Landwirtschaft sei durch den Brexit doppelt gestraft: Wales verliere nicht nur die Unterstützung der EU, sondern auch noch den größten Export-Markt.

Auch Glyn Roberts, Präsident des Bauernverbandes von Wales, wird mulmig zumute, wenn er an den Brexit denkt. Etwa 1000 Schafe, 120 Kühe, fünf Hirtenhunde und ein Schwein gehören ihm. Das Bauernhaus, in dem der fünffache Vater lebt, ist 300 Jahre alt, das Land hat er gepachtet. Die Regierung in London hat versprochen, die Bauern nach dem Wegfall der EU-Gelder zu unterstützen. Dennoch sorgen sich die etwa 18 000 Bauern in Wales, auch Roberts: "Ich hoffe, die Politiker halten ihr Wort - nicht nur kurze Zeit, sondern für einige Jahre."

"30 Prozent unserer Lämmer in Wales werden nach Europa gebracht", berichtete Roberts, der Walisisch besser als Englisch spricht. Im allerschlimmsten Fall drohten Zölle von 50 bis 60 Prozent. "Das ist dann kein Geschäft mehr für uns." Das für den Export bestimmte Rindfleisch aus Wales ginge sogar zu 90 Prozent an EU-Länder. Wenn die Bauern ihre Höfe aufgeben müssten, dann würde nach Ansicht von Roberts eine Kettenreaktion einsetzen: Ganze Dörfer könnten verlassen werden und die walisische Sprache drohe dann auszusterben.

Rund 13,5 Milliarden Euro zahlte Großbritannien nach Angaben der EU-Kommission im Jahr 2018 in den EU-Topf ein - nach Deutschland, Frankreich und Italien der höchste nationale Beitrag. Doch das ganze Vereinigte Königreich profitiert auch finanziell von der EU: 6,6 Milliarden gingen 2018 zurück, mehr als 3,5 Milliarden davon für britische Bauern und ländliche Entwicklung. Seit 2014 profitierten nur vier andere Staaten mehr von der gemeinsamen Agrarpolitik.

Auch Wales bekommt reichlich aus dem Topf. Die ärmeren Regionen werden bei vielen EU-Programmen besonders berücksichtigt. In den vergangenen sieben Jahren flossen im Schnitt rund 345 Millionen Euro allein aus den Fonds für Regionale Entwicklung und Soziales dorthin. Mit dem Geld wurden beispielsweise Feuchtgebiete erneuert und das Breitbandnetz ausgebaut. Die Briten profitieren trotz Brexits noch bis Ende 2020 von den EU-Programmen - und zahlen weiter in die EU-Kassen ein. So ist es im Austrittsabkommen festgelegt.

Die britische Landwirtschaftsministerin Theresa Villiers gibt sich siegessicher: "Wir können es 1000 Mal besser machen, als es unter der EU der Fall ist", sagte sie einmal mit Blick auf die Landwirtschaft.

Etwa eine halbe Stunde mit dem Auto vom Hof des walisischen Bauernchefs Roberts entfernt ist das Gewässer, das einst das Tal Tryweryn und ein Dorf flutete, in dem alle Walisisch gesprochen hatten. Im Sommer tauchen manchmal Reste des Ortes wie eine Mahnung auf. Auch hier am Ufer ist der Spruch zu finden: "Erinnert euch an Tryweryn". Noch deutlicher sind andere Wörter, die inzwischen auf Steinen und Mauern in dem britischen Landesteil geschrieben sind: "Fe godwn ni eto" - wir steigen wieder auf! Eine Anspielung nicht nur auf das versunkene Dorf, sondern auch auf die Unabhängigkeitsbewegung./si/DP/edh