MAINZ (dpa-AFX) - Der Firmensitz in der Mainzer Oberstadt lässt kaum erahnen, was hinter der unauffälligen Fassade vor sich geht. Doch zwischen Schrebergärten, Baugrube und Obdachlosenunterkunft hat mit Biontech ein Biotechnologieunternehmen seine Heimat gefunden, das bei der Revolutionierung bisheriger Behandlungsmethoden ein gehöriges Wort mitreden könnte.

DAS IST LOS BEI BIONTECH

Das 2008 gegründete Unternehmen konzentriert sich auf Therapien gegen Krebs, die von bisherigen Ansätzen teils erheblich abweichen. Setzt die traditionelle Onkologie auf Behandlungsmethoden wie Chemotherapie oder Bestrahlung, verfolgt Biontech mit eigens entwickelten Immuntherapien einen individuellen Ansatz für die Patienten. Ziel ist es, die Immunabwehr jeweils so zu beeinflussen, dass sie den spezifischen Tumor aus eigener Kraft bekämpfen kann.

Das Forschungsprogramm umfasst derzeit vier Wirkstoffklassen: Der gößte Schwerpunkt liegt auf der sogenannten mRNA-Technologie. Dabei werden genetische Informationen mithilfe eines "Messenger-RNA" (mRNA) genannten Botenstoffs an Zellen geliefert, die daraus Proteine zur Bekämpfung der Krebszellen bilden. Ein weiterer Bereich ist die Zelltherapie, bei der sogenannte "T-Zellen" des Patienten so verändert werden, dass sie sich gegen krebsspezifische Antigene richten. Zusätzlich konzentriert sich Biontech auf die Antikörper-Technologie sowie auf die Verwendung sogenannter niedermolekularer Wirkstoffe, die das Immunsystem zur Behandlung von Tumoren aktivieren.

In der Forschungspipeline befinden sich über 20 Produktkandidaten allein gegen Krebs. Hinzu kommen drei weitere gegen andere Erkrankungen, darunter Influenza. Allerdings sind die Wirkstoffe mit einer Ausnahme derzeit noch in frühen Stufen der klinischen Erprobung. Zahlreiche andere durchlaufen sogar erst die vorklinische Phase, womit noch viele Jahre bis zu einer möglichen Markteinführung vergehen werden.

Am weitesten vorangeschritten ist derzeit BNT122. Der Impfstoff gegen metastasierende Melanome und andere solide Tumore befindet sich derzeit in der zweiten Phase der klinischen Tests. Bisherige Ergebnisse sind vielversprechend. Das US-Magazin Nature zitierte in einem jüngsten Artikel einen Studienteilnehmer mit den Worten, er habe die Hautkrebszellen in den Wochen nach der ersten Injektion regelrecht schrumpfen sehen können.

Große Pharmakonzerne wie Sanofi, Pfizer oder Bayer sind bereits Partnerschaften mit den Mainzern eingegangen. Auch Microsoft-Gründer Bill Gates ist aufmerksam geworden: Der Milliardär hat über seine Stiftung 50 Millionen Euro in Biontech investiert.

DAS SAGEN ANALYSTEN

Analysten sind positiv gestimmt. Sämtliche von Bloomberg erfassten Experten stufen die Aktie als aussichtsreich ein. Zum dritten Quartal hat sich das Bankhaus Berenberg in einer Studie geäußert. Dabei ging es naturgemäß weniger um die Zahlen, die angesichts fehlender Medikamente am Markt zweitrangig sind, als um die Forschungspipeline. Hier verläuft nach Ansicht der Analysten alles nach Plan. Bei dem Produktkandidaten BNT111 zur Behandlung fortgeschrittener Melanome sei angesichts der bisherigen Ergebnisse in der Phase-1-Studie ein schneller Übergang zu einer Studie der Phase 3 möglich. Die Experten halten eine Zulassung schon 2022 für möglich.

Investoren konzentrieren sich zudem nach Ansicht der Berenberg-Analysten noch zu sehr auf die Krebsimpfstoffe und übersehen andere Forschungsansätze. Als "hidden champions" stufen die Experten BNT321 ein, einen Antikörper zur Behandlung von Bauspeicheldrüsenkrebs, und BNT411, einen TLR7-Agonisten gegen eine Vielzahl von soliden Tumoren. In präklinischen Studien habe der Wirkstoff bessere Ergebnisse erzielt als andere konkurrierende Immunmodulatoren.

Analysten von JPMorgan sind außerdem von der langjährigen Expertise des Unternehmens begeistert. Mit seinen über 1100 Mitarbeitern und der breiten Forschungspipeline sei Biontech alles andere als der typische Biotechnologie-Börsenneuling. Die US-Bank hat die Aktie in einer Erststudie mit "Overweight" und einem Ziel von 23 Dollar eingestuft. Die zahlreichen Daten klinischer Studien, die im kommenden Jahr auf dem Programm stehen, dürften für anhaltende Aufmerksamkeit sorgen.

DAS MACHT DIE AKTIE

Der US-Börsengang von Biontech fiel etwas holprig aus. Im schwierigen Marktumfeld im Oktober erreichte das Unternehmen die eigentlich angestrebte Preisspanne von 18 bis 20 Dollar je Aktie nicht. Erst für 15 bis 16 Dollar gelang der Sprung an die Nasdaq, wobei der Ausgabepreis 15 Dollar betrug.

Die Kursentwicklung verlief zunächst ähnlich. In den ersten Handelstag fiel die Aktie unter den Ausgabepreis, bevor der Kurs im November Fahrt aufnahm. Der war freilich nur der Anlauf für den Sprung im Dezember: In einer fulminanten Aufwärtsbewegung sprintete die Aktie auf bis zu 38 Dollar und pendelte zuletzt im Bereich von 35 Dollar.

Mit bis zu 150 Prozent Gewinn zur Erstnotiz hat das Unternehmen freilich erhebliche Vorschusslorbeeren eingeheimst. Die Marktkapitalisierung von mehr als sieben Milliarde Dollar reiht Biontech in die Spitzengruppe der wertvollsten deutschen Biotechnologieunternehmen ein. Es ist an der Börse mehr wert als Morphosys und Evotec.

Ob das gerechtfertigt ist, muss sich zeigen. Immerhin liegt das höchst Kursziel einer Bank bei gerade einmal 25 Dollar und der Durchschnitt der Analystenziele bei nur etwas über 21 Dollar. Selbst bei planmäßiger Entwicklung der Pipeline ist eine glänzende Zukunft für Biontech keine ausgemachte Sache. Zahlreiche andere Unternehmen sind mit Forschungsprogrammen im Bereich Immuntherapie unterwegs.

Gleichwohl könnte es auch Übernahmefantasie geben, So haben sich große Pharmakonzerne in den vergangenen Jahren immer wieder durch Übernahmen von Biotechnologieunternehmen verstärkt und ihre Expertise auf Gebieten wie der Immuntherapie so erweitert/mf/kro/mis