Moskau (Reuters) - Nach dem grenzübergreifenden Vorstoß ukrainischer Soldaten hat Russland in einer zweiten Region Evakuierungen angeordnet.
11.000 Menschen seien allein aus einem Grenzbezirk der Oblast Belgorod in Sicherheit gebracht worden, meldete die staatliche Nachrichtenagentur Tass am Montag. Belgorod liegt neben der Region Kursk, in die vor knapp einer Woche ukrainische Streitkräfte vorgedrungen waren. Nach Angaben des Gouverneurs von Kursk, Alexej Smirnow, sind sie bislang zwölf Kilometer auf russisches Gebiet vorgerückt und haben 28 Siedlungen unter ihre Kontrolle gebracht. Präsident Wladimir Putin warf der Ukraine vor, Russland destabilisieren zu wollen. Dies werde jedoch nicht gelingen. Sein Land werde auf den Vorstoß reagieren.
Der Gouverneur der Region Belgorod, Wjatscheslaw Gladkow, begründete die Evakuierungsmaßnahme mit "Aktivitäten des Feindes an der Grenze", die eine Bedrohung darstellten. In der Nachbarregion Kursk war es Russland zwar am Sonntag gelungen, die Front zu stabilisieren. Jedoch wurde russischen Kriegsbloggern zufolge in einem Teil des Gebiets auch am Montag weiterhin gekämpft. Das Verteidigungsministerium in Moskau teilte mit, an mindestens acht verschiedenen Stellen in Kursk seien ukrainische Angriffe abgewehrt worden. Man habe 32 ukrainische Panzer zerstört und zudem in der Nacht fünf Drohnen über Belgorod sowie elf über Kursk abgeschossen.
Unter Berufung auf den Gouverneur der Region Kursk meldete die staatliche Nachrichtenagentur RIA, ukrainische Truppen hätten bei ihrem Vormarsch Chemiewaffen eingesetzt. Es war zunächst unklar, ob Gouverneur Smirnow Beweise zur Untermauerung dieser Anschuldigung vorgelegt hat. Reuters kann den Vorwurf nicht überprüfen.
PRORUSSISCHER BLOGGER: LAGE IM WESTEN BELGORODS ALARMIEREND
Nach Angaben russischer Kriegsblogger versuchten ukrainische Einheiten in der Region Kursk den Ort Sudscha einzukreisen, in dem eine wichtige Gaspipeline-Anlage liegt. Größere Kämpfe gebe es zudem in der Nähe von Korenewo, das etwa 20 Kilometer von der Grenze entfernt liegt, sowie Martinowka. Im Westen Belgorods sei die Lage im Grenzgebiet alarmierend, schrieb der einflussreiche prorussische Militärblogger Juri Podoljaka. Die Ukraine sei "mit drei ziemlich großen Gruppierungen" an der Grenze präsent.
Der ukrainische Vorstoß in Kursk ist der größte auf russisches Territorium seit Beginn des Kriegs im Februar 2022. Russland war darauf offenbar nicht vorbereitet. Es hat seither die Sicherheitsvorkehrungen in Kursk sowie den Regionen Belgorod und Brjansk erheblich verschärft. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat am Wochenende den Vorstoß auf russisches Gebiet damit begründet, dass man Moskaus Truppen unter Druck setzen und "Gerechtigkeit wiederherstellen" wolle.
Putin sagte, die Ukraine versuche offenbar, den russischen Vormarsch an anderen Stellen der Front auszubremsen und ihre Verhandlungsposition zu verbessern. Er frage sich jedoch, wie man mit Leuten verhandeln solle, die auf Zivilisten feuerten. Beobachter schließen nicht aus, dass Kiew sich von der Aktion womöglich einen stärkeren Hebel erhofft, falls es nach der im November anstehenden US-Präsidentschaftswahl zu Gesprächen über eine Waffenruhe kommen sollte.
"SIEHT NACH RÄUMLICH BEGRENZTEM EINSATZ AUS"
Die USA, die zu den wichtigsten Unterstützern Kiews zählen, wurden nach Angaben eines Regierungssprechers in Washington nicht vorab von der Ukraine über den Vorstoß informiert. Ein deutscher Regierungssprecher in Berlin sagte, die Operation laufe "offenbar sehr geheim und ohne Rückkoppelung". Alles sehe bisher nach einem räumlich begrenzten Einsatz aus. Auf die Frage, bei dem Einsatz von Deutschland gelieferte Waffen einsetzt würden, sagte ein Sprecher des Verteidigungsministeriums, die Ukraine habe zugesichert, die Waffen im Rahmen des Völkerrechts zu nutzen.
Russland kontrolliert etwa 18 Prozent des ukrainischen Territoriums. Zuletzt rückten russische Truppen verstärkt entlang der etwa 1000 Kilometer langen Front vor. Am Wochenende geriet auch wieder das schon mehrfach heftig umkämpfte russisch-kontrollierte Atomkraftwerk Saporischschja im Süden der Ukraine in den Fokus. Dort brach ein Feuer aus, für das sich die beiden Kriegsparteien gegenseitig die Schuld gaben. Nach russischen Angaben dauerte der Brand etwa drei Stunden und richtete schweren Schaden an Kühltürmen den AKW an. Weder Russland noch die Ukraine stellten jedoch nach eigenen Angaben Anzeichen erhöhter radioaktiver Strahlung fest.
(Bericht von Guy Faulconbridge, Lidia Kelly, geschrieben von Christian Rüttger, redigiert von Elke Ahlswede.; Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com (für Politik und Konjunktur) oder frankfurt.newsroom@thomsonreuters.com (für Unternehmen und Märkte).)