- von Christina Amann und Alexander Hübner

München (Reuters) - Der endgültige Rückzug aus Russland nach 170 Jahren überschattet das ansonsten florierende Geschäft von Siemens.

Mit 572 Millionen Euro schlägt sich die Abwicklung des restlichen Geschäfts - vor allem in der Zug-Sparte - in der Bilanz des Münchner Technologiekonzerns nieder, der in Russland noch 3000 Mitarbeiter beschäftigt. "Das ist nur die konsequente Umsetzung der Sanktionen", sagte Vorstandschef Roland Busch am Donnerstag in einer Telefonkonferenz. Siemens habe schon mit der Abwicklung begonnen. Busch sprach von einer schweren Entscheidung. Die Lieferung von Teilen hatte man schon nach dem Einmarsch in der Ukraine im Februar gestoppt, nun wurde auch das Service-Geschäft immer schwieriger. Ohne Bremsen und Schmierstoffe lasse sich ein Zug kaum warten, sagte Busch.

Das Ergebnis im Industriegeschäft blieb wegen Abschreibungen auf Russland im zweiten Quartal des Siemens-Geschäftsjahres mit 1,8 Milliarden Euro um 13 Prozent hinter dem Vorjahresniveau zurück. Dabei kann sich Siemens vor Aufträgen kaum retten: Von Januar bis März kamen auf vergleichbarer Basis 22 Prozent mehr Bestellungen herein, im Wert von fast 21 Milliarden Euro. "Der größte Teil des Umsatzes für das zweite Halbjahr steht bereits in unseren Büchern", sagte Busch. Im abgelaufenen Quartal stieg der Umsatz aber nur um sieben Prozent auf 17 Milliarden Euro, weil die Lieferketten weiterhin brüchig sind. 200 Millionen Euro Umsatz für bereits bestellte russische Züge musste Siemens nachträglich ausbuchen. Der Nettogewinn brach um knapp die Hälfte auf 1,2 Milliarden Euro ein.

Die Einbußen in Russland, wo der Konzern im Jahr rund eine Milliarde Euro Umsatz erwirtschaftete, ließen sich bis zum Ende des Geschäftsjahres (Ende September) aber leicht wettmachen - wenn sich die Engpässe in der Lieferkette nicht verschärften und die Corona-Pandemie auch in China bald abebbe. Der Umsatz soll 2021/22 um sechs bis acht Prozent steigen, sogar etwas stärker als bisher geplant. Für den Gewinn je Aktie sagt Siemens weiter eine Steigerung auf 8,70 bis 9,10 Euro voraus. Angesichts des Umfelds sei die Bestätigung eine positive Nachricht, sagte Thomas. Vor Kriegsbeginn hatte er noch mit einer Anhebung der Prognose geliebäugelt.

An der Börse überwog die Enttäuschung: Die Siemens-Aktie gab sechs Prozent auf 110 Euro nach. Seit Jahresbeginn hat sie fast ein Drittel ihres Wertes eingebüßt. Der Vorstand kündigte an, ab sofort deutlich mehr Siemens-Aktien zurückzukaufen, um den Kurs zu stützen. Das im November gestartete Rückkaufprogramm über drei Milliarden Euro hat Siemens erst zu einem Siebtel ausgeschöpft.

In Russland ist Siemens nur noch mit seiner Tochter Siemens Healthineers aktiv, die dort Medizintechnik - etwa für Krebsbehandlungen - verkauft. Die Finanzierungssparte Siemens Financial Services (SFS) macht kein Neugeschäft mehr, muss sich aber an laufende Leasingverträge halten, die etwa drei Prozent ihres Geschäfts ausmachen. Wenn Siemens darauf verzichten oder seine Russland-Töchter vollständig abwickeln müsste, könnte das irgendwann später noch einmal bis zu eine halbe Milliarde Euro kosten, sagte Finanzchef Thomas.

PRODUKTION IN SHANGHAI LEIDET UNTER LOCKDOWN

Zurzeit muss wegen des Rückzugs aus Russland vor allem die Zug-Sparte Mobility Abstriche machen, deren Umsatz wegen der wegfallenden Erlöse im laufenden Geschäftsjahr stagnieren statt wie geplant um bis zu acht Prozent zulegen dürfte. Im zweiten Quartal schrieb sie wegen der Abschreibungen sogar rote Zahlen. Die Einbußen will Siemens durch höhere Zuwächse vor allem in der Automatisierungs-Sparte Digital Industries (DI) ausgleichen, die nun um bis zu zwölf Prozent zulegen soll. "Wir haben definitiv Marktanteile geholt", sagte Busch.

DI kämpft aber wie die Gebäude- und Infrastruktur-Sparte SI mit den Folgen der Corona-Pandemie - vor allem in China. Die Produktion in Shanghai kann wegen der strikten Maßnahmen der Regierung derzeit nur deshalb eingeschränkt weitergehen, weil die Belegschaft praktisch auf dem Werksgelände wohnt. Gleichzeitig sind Häfen überlastet und Lieferketten unterbrochen. Das werde sich im laufenden Quartal nicht ganz aufholen lassen, auch wenn der Lockdown im Mai aufgehoben werden sollte, warnte der Vorstandschef. Die Folge: längere Lieferzeiten. Das werde bis ins nächste Geschäftsjahr zu spüren sein, so Busch. Gegen die Inflation will sich Siemens mit weiteren Preiserhöhungen stemmen.

Die Gewinnlücken in Russland kann Siemens mit dem bereits beschlossenen Verkauf von Randbereich wie der Straßenverkehrs-Sparte Yunex Traffic und der Paket- und Brieflogistik stopfen. Zusammen sollen sie den Gewinn 2021/22 um 2,3 bis 2,5 Milliarden Euro aufbessern, wie Thomas vorrechnete. Die nächste größere Transaktion könnte aber etwas länger auf sich warten lassen, deutete er an. Bei der Antriebssparte Large Drives stochere man zurzeit im Nebel. "Wir sehen uns zeitlich und inhaltlich keinem Druck ausgesetzt." Gewerkschafter und Mitarbeiter hatten zuletzt gegen die Abspaltungspläne protestiert.