Von Rochelle Toplensky

LONDON (Dow Jones)--Der sprunghafte Anstieg der Gaspreise in Europa schlägt bisher erstaunlich wenig auf die Inflation durch. In der Zukunft könnte dieser Anstieg jedoch dramatische Folgen für die Teuerung mit sich bringen. Die europäischen Gas-Großhandelspreise auf den Spotmärkten haben sich in diesem Jahr etwa verdreifacht, aber der durchschnittliche Gaspreis für den Endverbraucher hat nur um etwa 9 Prozent zugelegt, schreibt die UBS in einer Studie. UBS-Ökonomin Anna Titareva schätzt die Auswirkungen auf die Inflation in der Region auf etwa 0,4 Prozentpunkte. Zum Vergleich: Der moderatere Anstieg des Ölpreises um 50 Prozent hätte die Inflation um 0,6 Prozentpunkte angetrieben.

Der Löwenanteil des Inflationsschubs entfällt also auf den Energiesektor, der sowohl die Auswirkungen der aktuellen Preissteigerungen als auch die Auswirkungen der extrem niedrigen Preise des vergangenen Jahres beinhaltet.

Wie ihre Kollegen von der US-Notenbank Fed zeigen auch die EZB-Währungshüter auf die "vorübergehenden" Faktoren. Diese lägen der Inflation derzeit zugrunde. Aber das hat den Markt trotzdem nicht davon abgehalten, seine Erwartungen für Zinserhöhungen in den vergangenen Wochen hochzuschrauben.


   Energierechnung macht in Europa großen Teil des Warenkorbs aus 

Der Druck auf Europas Zentralbanker dürfte zunehmen. Die Energierechnungen machen einen bedeutenden Teil des Verbraucherpreisindex' aus: 9,5 Prozent in der Eurozone und 6 Prozent in Großbritannien. Im Moment sind die Verbraucher von den Schwankungen des Gasmarktes weitgehend isoliert, aber die Situation scheint nicht ganz haltbar zu sein.

Die europäischen Regierungen schützen die Haushalte durch Regulierung und Preiskontrollen vor großen Sprüngen bei den Energiekosten. In vielen Ländern werden Standardtarife für Gas und Strom festgelegt und in regelmäßigen Abständen angepasst. Als Reaktion auf die jüngste Krise haben einige Regierungen auch Preisobergrenzen eingeführt, die Energiesteuern gesenkt und einigen einkommensschwachen Haushalten oder kleinen Unternehmen Unterstützung angeboten.


   Angst der Regierungen vor dem Zorn der Wähler 

Die Politiker befürchten, dass ein sprunghafter Anstieg der Rechnungen die Wähler verprellen oder die öffentliche Unterstützung für die Energiewende untergraben könnte. Eine vorgeschlagene Erhöhung der Kraftstoffsteuer in Frankreich im Jahr 2018 löste öffentlichkeitswirksame Proteste und einen demütigenden Rückzieher von Präsident Emmanuel Macron aus.

Doch der Schutz der Verbraucher hat unangenehme Nebeneffekte. Preisobergrenzen haben die Versorgungsunternehmen ins Mark getroffen: Deren Aktien haben sich seit Februar schlechter entwickelt als der europäische Vergleichsindex. Und in Großbritannien sind eine Handvoll Anbieter in Konkurs gegangen, zwei davon erst diese Woche. Andere Unterstützungsmaßnahmen aus der Krisenzeit sehen vor, dass die Regierungen das Risiko schultern, was die Belastung der öffentlichen Finanzen nach Corona noch erhöht.


   Gas als Übergangslösung bei der Energiewende 

Außerdem gibt es strukturelle Veränderungen, die die Erdgaspreise im Laufe der Zeit stärker an die Inflation koppeln. Manche Unternehmen sichern ihre Versorgung mit langfristigen Verträgen ab, doch immer mehr tun dies nicht. Die Umstellung von langfristigen Verträgen mit ölgebundenen Preisen auf den Kauf von Gas auf den Spotmärkten wird den Inflationseffekt durchs Gas erhöhen und den Einfluss von Öl verringern. Eskalierende Gaspreise werden sich wahrscheinlich auch in neuen langfristigen Verträgen niederschlagen.

Ein weiterer Faktor: Gas wird im Zuge der Dekarbonisierung der Region einen größeren Teil des europäischen Energiemix' ausmachen. Es dient dazu, kohlebefeuerte Kraftwerke zu ersetzen und Lücken in der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien zu schließen. Die Abhängigkeit unterscheidet sich dabei von Land zu Land.

Großbritannien ist von der aktuellen Krise besonders stark betroffen, da es etwa ein Drittel seines Stroms aus Gas erzeugt, während es in Deutschland ein Viertel und in Frankreich 15 Prozent sind. Letzteres hat in der Vergangenheit stärker als seine Nachbarn auf Kernkraftwerke gesetzt.

Wenn die Gaspreise in Europa das nächste Mal sprunghaft emporschnellen, können die Anleger mit weiteren Inflationsängsten rechnen.

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DJG/DJN/axw/smh

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October 14, 2021 10:13 ET (14:13 GMT)